Neue soziale Fotografie?
Die Tradition der sozialen oder sozialdokumentarischen Fotografie reicht bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurück, als die Kamera unter dem Einfluß des jungen Journalismus und der sich formierenden Soziologie sich der Erforschung des Sozialen und seiner Mißstände widmete. Thomas Annan, der die Glasgower Elendsviertel von 1868 fotografierte oder Jacob August Riis, der die Slums der Lower Eastside in New York 1890 dokumentierte, stehen als Beispiele für diese Anfänge. Seither widmeten sich engagierte Fotografen immer wieder dem Sozialen und als "klassisch" gelten heute die Dokumentationen eines Walker Evans oder einer Dorothea Lange aus den 30 Jahren.
Der Begriff der "Neuen sozialen Fotografie" nun entstand in der Auseinandersetzung mit dieser klassischen sozialen Fotografie anhand zweier aktueller gesellschaftlichen Entwicklungen. Zum einen der Tendenz des rapiden Anwachsens und der zunehmenden Dominanz einer "virtuellen" Welt, die über Medien das Denken der Menschen und ihre Vorstellungen über die reale Welt strukturiert, wobei diese beiden Welten zum Teil längst nicht mehr analytisch zu trennen sind (zum Beispiel bei sogenannten "Medienereignissen" wie etwa einer Pressekonferenz). Diese virtuelle Welt ist aktuell gekennzeichnet durch die Begriffe der Beschleunigung und der Globalisierung. Beschleunigung meint, daß die Produktionszeit von Medienprodukten gegen Null tendiert, deren Idealfall die Live-Berichterstattung ist[1]. Globalisierung meint, daß - z.B. durch das Internet - Daten und Bilder zusehends losgelöst vom Ort verfügbar sind. Oder mit anderen Worten: Jeder Winkel dieser Erde ist mittlerweile medial abgedeckt - z.B. in Echtzeit durch sogenannte Web-Cams[2], die den Roten Platz in Moskau, die intime Wohnsituation von Menschen oder einen chirurgischen Eingriff übertragen.
Ist dies die eine Tendenz, auf die sich die "Neue soziale Fotografie" bezieht, so besteht die andere in der Entwicklung der Sozialstruktur moderner, nachindustrieller Gesellschaften. Wenn es richtig ist, daß ein Fotograf letztendlich nur das fotografiert, was bereits im Kopf vorhanden ist und somit seine Weltsicht strukturiert - in der Wissenschaft würde man von Erkenntnisinteresse sprechen - dann spielt es natürlich eine wichtige Rolle, welche Vorstellung von Gesellschaft in den Köpfen herrscht. Bezogen auf das "Soziale" geht es vor allem um die Fähigkeit, zu unterscheiden, mithin also, soziale Strukturen wahrzunehmen. Als theoretischer Grundlage orientiert sich die "Neue soziale Fotografie" vor allem an dem Ansatz des französischen Soziologen Pierre Bourdieus. Mit seinen Begriffen des "sozialen Raumes" und des "Habitus" stellt er Instrumente zur Klassenanalyse der Gesellschaft bereit und macht so die "Feinen Unterschiede" deutlich. Damit ist es möglich, zu unterscheiden, wo andere längst eine zunehmend einheitlich strukturierte Gesellschaft ohne größere soziale Unterscheidungen und Klassen sehen wollen. [4] Freilich, Bourdieu auf das Soziale mit den ästhetischen Mitteln der Fotografie angewandt bedeutet auch, daß Wahrnehmungsschemata[5] der industriellen Gesellschaft - mithin also der Vergangenheit - für die Gegenwart nur noch bedingt taugen. Was das heißt und was "Neue soziale Fotografie" nicht mehr sein kann, sei an einem Beispiel erläutert.
Wenn aber das "klassische" Bild des Obdachlosen längst von der Werbung instrumentalisiert wurde, wie sollte es dann noch möglich sein, den sozialen Tatbestand der Obdachlosigkeit fotografisch zu erfassen? Eine "Neue soziale Fotografie" muß also zweierlei tun: Sie muß erstens auf "klassische" Wahrnehmungsschemata des Sozialen verzichten, da diese Schemata längst entwertet und kommerzialisiert sind (was sich in die These des Soziologen Jürgen Habermas über die "Kolonialisierung der Lebenswelt" fügt). Und obwohl die "klassischen" sozialen Themen wie Obdachlosigkeit und Armut nicht verschwunden sind, muß sich eine "Neue soziale Fotografie" den neuen sozialen Ungleichheiten bzw. den neuen Ausprägungen alter sozialer Ungleichheiten stellen. "Armut" zum Beispiel hatte in den 60er Jahren ein anderes Gesicht als die "Neue Armut" in den 90er Jahren, gleichwohl dem Verschwinden von "klassischen" Attributen des Wahrnehmungsschemas "Armut" - etwa Barackensiedlungen, abgerissene Kleidung - nicht das Verschwinden des Phänomens "Armut" selbst entspricht.[6] Nur das Erscheinungsbild hat sich gewandelt.
Neue soziale Fotografie ist somit kurz gefaßt eine Art Erkenntnismethode - eine Fotografie mit soziologischem Ansatz.
[1] Was unter Beschleunigung zu verstehen ist, wird deutlich, liest man folgende Schilderung über den Aufwand der Life-Redaktion anläßlich der Beerdigung von Winston Churchill im Jahre 1965: "Motorradfahrer bringen die belichteten Filme zum Flughafen, wo ein gechartertes Flugzeug wartet. Im Inneren hat man es in ein Redaktionszimmer mit Tischen und Schreibmaschinen verwandelt. Ein Labor ist im vorderen Teil des Flugzeuges installiert worden...Auch ein großer Tisch ist vorhanden, damit die Photos für das Layout ausgelegt werden können, außerdem Lichttische...Das Flugzeug war am Vorabend in New York gestartet. An Bord befanden sich 40 Redaktionsmitglieder und unter ihnen sechs Spezialisten, die die siebzig Farbfilme entwickeln werden. Das Flugzeug braucht etwas mehr als neun Stunden, um die 8500 Kilometer zwischen London und Chicago zurückzulegen, wo sich die Druckerei von Life befindet...Um verzögernden Winden auszuweichen, steuert das Flugzeug nördliche Richtung an und fliegt direkt unter dem Polarkreis." (Freund, Gisèle: Photographie und Gesellschaft", München 1976 S. 159) Heute wäre der gleiche Zweck im Prinzip mit einer Digitalkamera, einem Laptop und einem Handy realisierbar. [2] Es ist schon ein merkwürdiges Phänomen, daß in Zeiten, in denen Datenschutzbeauf-tragte ernannt werden, manche Personen geradezu der Lust an der Zurschaustellung ihrer Privatsphäre frönen. Den Anfang machte eine junge Dame namens Jenni aus Washington D.C.: Über ihre Web-Cam läßt sich per Internet ihr Alltagsleben verfolgen. (Vgl. z.B. "Im Auge des Voyeurs", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.1998 S. 11) [3] Zum Beispiel wurde der Einsatz der US-Soldaten in Somalia beendet, nachdem das Fernsehen die Bilder eines durch die Straßen geschleiften, toten US-Soldaten gezeigt hatte. [4] Vgl. dazu etwa Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main 1993. Der soziale Raum gliedert sich nach dem "Guthaben" an ökonomischen und kulturellen Kapital (etwa Geld und Bildung) und jedes Gesellschaftsmitglied nimmt nach dieser Ordnung "seinen" Platz im sozialen Raum ein. Der Habitus ist die verinnerlichte soziale Struktur, die die Wahrnehmung und das Verhalten der Menschen bestimmt. [5] Unter einem Wahrnehmungsschema sind die Dispositionen in den Köpfen der Menschen zu verstehen, ihre Umgebung nach verinnerlichten Strukturen zu ordnen und zu bewerten, ja überhaupt bestimmte Teile dieser Umgebung wahrzunehmen. [6] Vgl. Rot, Jürgen: Armut in der Bundesrepublik, Hamburg 1979; Hanesch, Walter, u.a.: Armut in Deutschland, Hamburg 1994
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