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Serie 1. Neue soziale Fotografie:
                  Menschen hinter Glas

 

 

 

 

Dorothea Lange: Heimatlose Mutter, Kalifornien 1936

 

 

 Lewis W. Hine, Walker Evans, Dorothea Lange - Namen, die  stellvertretend fĂźr die sozialkritische und sozialdokumen-tarische Fotografie in den USA der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen. Diese Klassiker der Fotografie widmeten sich (wie viele andere Fotografen) den sozialen Umständen ihrer Zeit und dokumentierten das Leben und die MĂźhsal der Unterprivilegierten - den Kindern in den Fabriken, den Obdachlosen auf den Straßen, den verarmten Landpächtern im Westen der Vereinigten Staaten.


Am Ende des ausgehenden 20. Jahrhunderts tut sich soziale Fotografie schwer, Gesellschaft und ihre sozialen Ungleichheiten abzubilden: Sind die Bilder von Evans oder Lange noch mehr oder weniger eindeutige Signifikate fĂźr soziale Tatbestände, so sind die neuen Ungleichheiten und sozialen Strukturen der Gesellschaft nicht mehr eindeutig an äußeren Merkmalen festzumachen. Signifikante Attribute der sozialen Lage gehen mehr und mehr auf in einem gesellschaftlichen Mittelfeld, wenn auch freilich noch „oben“ Statussymbole und „unten“ Deprivationsmerkmale identifizierbar sind (und durch den massiven Sozialabbau in den 80er und 90er Jahren verstärkt zutage treten).


Die „Neue soziale Fotografie“ nun versucht mit einem soziologischen Ansatz,  gesellschaftliche Strukturen und Ungleichheiten im Bild zu erfassen, abzubilden und zu interpretieren.


Die Serie „Menschen hinter Glas“ steht für das Projekt, das moderne Individuum in seinen Bezügen zu einem Ort darzustellen. In diese Bezüge gehen Beziehungen der Menschen untereinander ein: Der Ort ( der Arbeitsplatz, das Foyer, die Trambahn, der Besprechungsraum, etc.) steht für die Manifestation gesellschaftlicher Struktur, denen die Individuen unterworfen sind.


 

 

 

 

 Edward Hopper: Nachts im BĂźro, 1940

Der amerikanische Maler Edward Hopper stellte in manchen seiner Bilder  Menschen im BĂźro, am Schreibtisch, am Tresen dar, getrennt von der Außenwelt durch eine kaum angedeutete Glasscheibe, die den intimen Blick auf Situationen freigibt (das wohl berĂźhmteste dieser Bilder: Nighthawks, 1942).  Die dargestellten Dinge zeigen sich dem Betrachter in merkwĂźrdiger Distanz und geben doch Einblick.


Was Hopper in seinen Bildern aufgriff, manifestiert sich in der Architektur seit den 50er Jahren. Das  Lever House in New York ist die erste Umsetzung eines Planungskonzeptes, bei dem eine Glaswand die Tätigkeiten innerhalb des Gebäudes vom Leben der Straße abschneidet. „In diesem Konzept verschränkt sich eine Ästhetik der Sichtbarkeit und die gesellschaftliche Isolation“, so der Sozialwissenschaftler Richard Sennett in „Die Tyrannei der Intimität“.



Heute signalisieren die Glasfassaden der Verwaltungsgebäude Durchlässigkeit und gesellschaftliche Transparenz, gleichwohl ein Trugbild. Doch der Blick auf Menschen hinter Glas ist auch der zu interpretierende Blick auf die Strukturen, in denen die Menschen arbeiten und leben. Und es ist der Blick auf das Paradoxon der Isolation inmitten von Sichtbarkeit.  


 


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