Unterwelt

Die Weltwoche 6.12.2001:

Spaziergang durch die Unterwelt

 Auf den Spuren des „Dritten Mannes“ kann man Wien erkunden. Nichts für Leute mit Herzfehlern.

 Von Rudolf Stumberger

  â€žEs war zehn Uhr abends, als wir unsere Wanderung antraten. Der Hausmeister öffnete blitzschnell mit einem Dietrich die kleine, eiserne Tür des Turmes und wir stiegen die enge, stark gewundene Treppe hundert Stufen hinab bis zur Sohle des Kanals. An Waffen trugen wir für alle Fälle je einen englischen Schlagring mit gehärteten Stahlspitzen und einen kleinen Revolver mit.“ So schilderte der Wiener Emil Kläger seine Ausflüge „Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens“, seinen Abstieg in das Reich der Kanalisation im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

Wer heute diese Unterwelt betritt, benötigt mitnichten Artikel der Selbstverteidigung, aber immer noch starke Nerven. Zumindest wenn er sich der Führung der Stadt im Esperantopark an der Friedrichstraße anschließt. Dort öffnet sich sternförmig der Kanaldeckel zum Reich der Dunkelheit und im Kreise geht es die Stufen hinab, vorneweg der Mitarbeiter der Stadtwerke mit seiner Lampe. Unten knallt dann allerdings wirklich ein Revolver, das spärliche Licht, das die gemauerten Gänge ausleuchtet, flackert und Rauchschwaden wabern durch die Gewölbe. Personen mit „Herzfehlern“ oder Schwangeren wird deshalb auch vom Besuch des historischen Kanalnetzes abgeraten. Er steht unter dem Motto „Ein Schatten, eine Stimme, ein Schuss“ und hat nicht das Elend der Obdachlosen, sondern das Filmspektakel „Der dritte Mann“ zum Thema. Denn dieser berühmte Spielfilm wurde 1948 in den Abwasserkanälen Wiens gedreht, das Drehbuch stammte von Graham Greene und unvergessen bleibt Orson Welles in der Hauptrolle des Penicillin-Schmugglers Harry Lime.

Ein bißchen Elend kommt dann aber doch zur Sprache, wenn der Mitarbeiter der Stadtwerke erzählt, dass die Arbeit hier unten nicht ungefährlich sei. Weil manchmal beim Kanalräumen per Hand sich in dem Morast die Spritzbestecke der Drogenabhängigen finden, die sich oben am Esperantopark treffen. Ansonsten aber ist es hier unten friedlich, die Führung geht entlang schmaler Schächte, führt zu einem größeren Raum mit Sinkbecken - hier setzt dann auch die „Dritte-Mann-Inszenierung ein - und mündet schließlich im großen Gewölbe des Wienkanals, der sich vom Stadtpark aus unter dem Naschmarkt mehrere Kilometer lang hinzieht.

 Die Wiener Kanalisation und der „Dritte Mann“, das sind auch die Themen der Historikerin Brigitte Timmermann, die eine zweieinhalbstündige Führung durch die Unterwelt organisiert. Diesmal mit brennenden Fackeln und Taschenlampen „bewaffnet“, geht es ganz „klassisch“ durch eine Litfaßsäule hinab in das Dunkle. Und lässt man die Wendeltreppe hinter sich, so führt uns ein Gang hinaus zu dem mächtigen Wienkanal. In der Mitte der Sohle fließt leise gurgelnd das Wasser, ansonsten herrscht Totenstille. Das Licht der Fackeln erhellt nur mühsam die Wände des 25 Meter breiten Kanals, ab und zu tropft Wasser von der Decke, die weit oben im Dunklen liegt. Mit vorsichtigen Schritten bewegt sich die Touristengruppe vorwärts, denn der Untergrund ist abfallend, feucht und von Rinnsalen durchzogen. Und dies ist auch das richtige Ambiente, um die Welt des „Dritten Mannes“ auferstehen zu lassen. Man erfährt zum Beispiel, das extra aus London Scheinwerfer eingeflogen wurden, da die in Wien vorhandenen Filmleuchten nicht ausreichten um den Kanal für das Zelluloid genügend zu erhellen. Man erfährt, dass Orson Welles sich ziemlich „grantig“ gab, wie es im Wiener Dialekt heißt, da im Winter gedreht wurde und ihm die Kälte nicht behagte. Man erfährt auch, dass der berühmte Schauspieler in dieser und jener Szene gedoubelt wurde und auch sonst allerlei Details zu den Dreharbeiten. Mittlerweile gibt es eine regelrechte Fangemeinde rund um das Thema, dessen berühmte Filmmelodie von Anton Karas seinerzeit ein musikalischer Exportschlager Österreichs war. Zwischendurch drängen sich die Teilnehmer der „Unterwelt-Expedition“ in schmale Seitenkanäle und sind dann wieder froh, der klaustrophischen Enge zu entkommen.

Brigitte Timmermann erzählt aber auch von den Menschen, die im Kanalnetz ein kärgliches Dasein fristeten und sich mit dem Einsammeln von Metall oder Lumpen über Wasser zu halten versuchten. Denn diese Unterwelt war nicht nur die Welt der Nagetiere und Kanalarbeiter, sondern auch die Welt derjenigen, die „oben“ keinen Platz finden konnten. Der Bericht über die „Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens“ aus dem Jahre 1908 ist eine der ersten Schilderungen aus dieser Welt der Obdachlosen und Vagabunden, der kleinen Diebe und Gauner. Nicht nur mit Schlagring und Revolver, sondern auch mit Blitzlicht und Kamera ausgerüstet, stiegen die Autoren in die Kanäle hinab. Was sie fanden waren mehr oder weniger zerlumpte Gestalten, die hier einen Unterschlupf gefunden hatten, die auf Zeitungspapier ein Nachtlager errichteten oder sich um ein Feuer wärmten: „Still waren die Menschen alle. Nach einigen Minuten erhob sich ein junger Bursche halb vom Boden. In seinem bleichen Kindergesicht stand der Stempel der Tuberkulose. Er lallte mit heiserer Stimme und verschlafenen Augen: ‚Habt´s an Tschick‘ (Zigarrenstumpf) und warf sich, ohne eine Antwort abzuwarten, wieder auf sein Lager nieder. In all diesen Gesichtern stand der Hunger.“ In einigen der Gänge lagen Haufen von altem Eisen herum und über jedem dieser Haufen waren die Namens-Initialen der „Eigentümer“ in großer unsicherer Schrift an die Mauer gemalt.

 Unter dem Schwarzenbergplatz befand sich eines der größten unterirdischen Quartiere, die sogenannte Zwingburg. Oberhalb des Sammelkanals lag der Eingang zu einer Kammer, die mit einer Art Zugbrücke gesichert war. Bei den gelegentlichen Polizeirazzien unter Tage zogen die Obdachlosen das Brett zurück und waren somit für die Wachleute nicht mehr erreichbar. Außerdem gab es von der Zwingburg wie bei einem Dachsbau unzählige Fluchtgelegenheiten durch kleinere Kanäle.  

An die 2000 Kilometer begehbare Kanäle weist das der Untergrund von Wien auf, insgesamt zählt das Kanalisationsnetz eine Länge von rund 5000 Kilometern. Bereits 1850 konnten die Stadtväter der Donaumetropole mit Stolz auf ein gut funktionierendes Kanalsystem blicken. Städte wie Berlin oder München sollten erst sehr viel später ein modernes Abwassersystem erhalten. Der Grund für den in der Regel recht teuren Bau der Kanalisationsnetze lag in den im 19. Jahrhundert immer wieder in Europa auftretenden Choleraepidemien,  die fast schlagartig über die Städte hereinbrachen. Denn bis zum Bau der Kanalisation verbreiteten die in den Gassen gespülten Fäkalien nicht nur einen mörderischen Gestank, sondern sie verunreinigten auch das Grundwasser und führten so zu tödlichen Krankheiten. Heute münden täglich mehr als 500.000 Kubikmeter Abwässer in das Wiener Kanalnetz.

 

Dass sich in diesem nun die Urlauber tummeln, ist übrigens keine besondere Neuheit. Bereits um 1870 konnten in Paris Touristen die Pariser Kanalisation inspizieren, sitzend auf einem Wägelchen, das von Kanalarbeitern gezogen wurde. Und 1877 ließ es sich Kronprinz Wilhelm nicht nehmen, eine Kahnfahrt durch die (damals neuen) Hamburger Sielgewölbe zu unternehmen.

 

 Information:

 

Treffpunkt für die Führung „Die Rückkehr des Dritten Mannes“ ist an der Friedrichstraße/Esperantoplatz gegenüber dem Cafe-Museum. Von April bis Oktober finden sie täglich statt, von November bis März am Sonntag, Montag und Dienstag. Die Führungen werden halbstündlich durchgeführt und dauern jeweils circa 25 Minuten, der Eintrittspreis beträgt für Erwachsene 90 Schillinge (6,54 Euro). Das Mindestalter für die Teilnahme beträgt 12 Jahre. Kartenreservierung unter MA 30 - WienKanal, A-1030 Wien, Modecenterstraße 14, Tel. (+43/1) 795 14/ 930 18 oder unter A-1010 Wien, Friedrichstraße/Esperantopark, Tel. (+43/1) 585 64 55.

 

Die Führung „50 Jahre Der dritte Mann: Wien auf den Spuren eines Filmklassikers“ von Dr. Brigitte Timmermann findet jeden Montag und Freitag um jeweils 16 Uhr statt, Treffpunkt ist die U-Bahnstation der Linie U4 am Stadtpark. Die zweisprachige Führung (deutsch, englisch) dauert rund zweieinhalb Stunden und kostet 190 Schillinge (13,81 Euro). Tel. (+43/1) 774 89 01. Im Internet unter http://www.wienguide.at und http://viennawalks.tix.at      

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