Seminolen

Der späte Sieg der Seminolen

Ein Indianerstamm in Florida führt Betriebe im Kollektivbesitz, unterhält kostenlose Sozialdienste und erhält so seine kulturelle Identität

 

..  Lange Zeit hielt sich das Vorurteil, die Indianer Amerikas seien nicht fähig, mit modernen Wirtschaftsformen umzugehen. Doch dank einem aus dem alten Stammesgeist abgeleiteten Umgang mit Profiten leben heute etwa die Seminolen in Florida besser als viele ihrer weissen Mitbürger.


Von Rudolf Stumberger

 «Chehantamo?» Wie geht's? Mit diesem indianischen Wort begrüsst Moses Osceola gerne die Besucher. Der stämmige 57-Jährige ist einer von den zwei gewählten Stammesführern des Indianerstammes der Seminolen in Florida. Ihr Hauptquartier, ein modernes vierstöckiges Bürorogebäude mit der Hausnummer 6300, liegt an der Stirling Road nö¶rdlich der Millionenmetropole Miami. Vor dem Eingang wacht die von Palmen umgebene Bronzestatue eines Indianerführers aus dem 19. Jahrhundert mit dem Gewehr in der Hand: Die Seminolen - dies ist ihr Stolz - wurden nie von den Weissen besiegt. Vor dem Eingang wacht aber auch ein Mitglied der «Seminole Police», der eigenen Stammespolizei, wie auf der nah geparkten Limousine zu lesen ist. Über dem ganzen Szenario weht die Stammesflagge in den Farben Weiss, Schwarz, Rot, Gold, die in der Mitte das Bild eines “chickee”, einer traditionellen Hütte der Ureinwohner, zeigt.

. 

 Hauptquartier, Polizei und Flagge - all dies signalisiert einen weitgehend unabhängigen Staat inmitten des Gliedstaates Florida: Die Seminolen sind seit 1957 als eigene Indian nation von der Bundesregierung in Washington anerkannt. Und seit knapp drei Jahrzehnten sind sie wirtschaftlich gesehen einer der erfolgreichsten Indianerstämme in den USA. So erfolgreich, dass der Stamm vor kurzem für knapp eine Milliarde Dollar die internationale Hard-Rock-Cafe-Gruppe aufkaufte.

 «Chehantamo?» Die Begrüssung steht auch in grossen Lettern in der Eingangshalle des Hauptquartiers, über den lebensgrossen Figuren einer Indianerfamilie in traditioneller Tracht, die in einem Holzkahn durch die Sümpfe der Everglades rudert - eine Szene aus der Vergangenheit des Stammes. Eine Vergangenheit, die vor 1970 von Armut und Entbehrung geprägt war. Damals lebte der Stamm vom Verkauf handgenähter Puppen an Touristen oder vom «alligator wrestling», dem Schaukampf mit Alligatoren. Vor allem aber von der Sozialhilfe der Bundesregierung.

Staaten im Kleinformat

 Wer wissen will, wie es den Seminolen heute geht, der kann sich im Vorzimmer von Präsident Osceola im dritten Stock des Hauptquartiers informieren. Dort liegen für die Besucher eine Reihe Broschüren aus. Eine davon zeigt, wie der Stamm heute zu Geld kommt: In einem Newsletter wird die Eröffnung eines neuen Convenience-Store in einem der sechs Reservate angekündigt. Also eine Art Supermarkt neben der Tankstelle, in dem man Güter des täglichen Bedarfs wie Zigaretten, Lebensmittel, Zeitschriften und Kosmetik kaufen kann. Er ist einer von drei neuen Läden, die die Seminolen dieses Jahr eröffnen wollen - mit feierlichen Zeremonien.

 Die andere Broschüre zeigt, wie der Stamm sein Geld ausgibt: «Auf welche Reparaturen im Haushalt habe ich als Stammesmitglied Anspruch?», ist dort zu lesen. Es sind viele: «Das Wohnungsministerium des Seminolen-Stammes von Florida sorgt für die grundsätzlichen Reparaturleistungen an deinem Erstwohnsitz auf dem Gelände der Reservate.» Dazu gehören Reparaturen an den elektrischen Installationen, im Sanitärbereich, an der Klimaanlage und den Ventilatoren, aber auch der seniorengerechte Umbau des ganzen Hauses. Und alles ist kostenlos.

 Der Stamm der Seminolen ist einer von mehr als 500 Indianerstämmen in den USA, die als eigene Nation anerkannt sind. Quasi eine Art Staat im Staate, mit eigenen Territorien (den Reservaten), eigener Rechtsabteilung, eigener Polizei; ein weiteres Zeichen dieser Unabhängigkeit ist die Freistellung von den Steuern. Nur in bestimmten Fällen wie Mord darf die Bundespolizei FBI in den Reservaten ermitteln. Doch es gibt Grenzen der Souveränität: Eine «Aussenpolitik» dürfen die «Indian nations» nicht betreiben.

 Und wie jeder Staat, der etwas auf sich hält, hat auch die Nation der Seminolen eigene «Ministerien», die alle im Hauptquartier an der Stirling Road untergebracht sind. Das «Polizeiministerium» etwa, das «Justizministerium» und das «Wohnungsministerium». Eine gewichtige Rolle spielt wie in allen Staaten das Finanzministerium. Moses Tiger, seines Zeichens «tribal treasurer», also Schatzmeister des Stammes, sitzt in seinem Büro im Raum 417; wenn man ihn besucht, gibt er freundlich Auskunft, aber nicht, was den Haushalt anbelangt, das sei «Privatsache» des Stammes. Zumindest eine Schätzung wagt die in Saint Petersburg an der Westküste Floridas erscheinende «St. Petersburg Times»: Auf rund eine halbe Milliarde Dollar pro Jahr beziffert das Blatt den jährlichen Haushalt. Zu einer ähnlichen Grössenordnung kommt Jessica Cattelino, Anthropologin an der Universität von Chicago. In ihrem demnächst erscheinenden Buch über die Seminolen schreibt sie, dass im Jahre 2005 das jährliche Budget des Stammes 400 Millionen Dollar überschritten habe. Nimmt man den Durchschnitt der beiden Angaben, so haben die Seminolen also an die 450 Millionen Dollar pro Jahr in ihrem «Staatssäckel», das sind umgerechnet rund 550 Millionen Franken.

 Heute sind die Seminolen stolz darauf, dass sie wirtschaftlich auf eigenen Füssen stehen und nicht mehr auf die Sozialhilfe und die finanziellen Zuschüsse durch die US-Bundesregierung angewiesen sind. Sie sind mittlerweile zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor in Florida geworden, der für rund 8000 Arbeitsplätze sorgt. Grundlage der hervorragenden finanziellen Situation des Stammes sind die diversen stammeseigenen Wirtschaftsbetriebe wie die (steuerfreien) Zigarettenläden. Die Seminolen sind der sechstgrösste Fleischverarbeiter in Florida, an die 11 500 Rinder stehen auf ihren Weiden. In Plantagen bauen sie Zitrusfrüchte an, und im Reservat Big Cypress in den Everglades werden diverse Attraktion für Touristen geboten: von Rodeo-Vorführungen über ein Motocross-Gelände bis zum «Billie Swamp Safari-Camp».

Durch Kasinos zum Glück

 «Das Camp wurde eingerichtet, um den Besuchern zu zeigen, wie die Seminolen hier draussen in den Sümpfen lebten», sagt Cindy, eine der 100 weissen Angestellten im Camp, die sich um die Besucher kümmern. So wie Glenn. Der breitschultrige Mittfünfziger steuert einen der skurrilen «Swamp Buggies» - ein Gefährt mit vier riesigen Reifen und Platz für ein Dutzend Touristen - durch das Unterholz der Sümpfe und erzählt über das Ökosystem der Everglades und über Krokodile («beissen nur, wenn sie müssen»). Von ferne hört man dabei das beständige Dröhnen der «airboats» - flacher Boote, die von einem Propeller angetrieben werden -, mit denen gleichfalls die Touristen über die Wasserwege transportiert werden. Höhepunkt dieser Tour ist die Fütterung von Alligatoren.

 Das Rückgrat der Indianer-Ökonomie aber bildet das Glücksspiel, 95 Prozent aller Einnahmen des Stammes kommen aus den sechs Spielkasinos. Das neueste und nobelste ist das Hard Rock Hotel / Casino nahe der Stadt Hollywood in Florida (die 145 000-Einwohner-Kommune hat nur den Namen mit der berühmten Filmstadt in Kalifornien gemein). Wie bei den Pendants im berühmten Las Vegas begegnet man hier einer Mischung aus weitläufigen, schummrig beleuchteten und kühlen Hallen, in denen unentwegt Spielautomaten blinken, surren und klacken, aus Restaurants, Boutiquen, Hoteletagen, Swimmingpools und Parkgaragen. Zwei Blocks von dieser Nobelherberge (Übernachtung von 250 Dollar aufwärts) entfernt liegt ein weiteres Kasino. Ein schlichter Bau wie eine Industriehalle - die erste Glücksspieleinrichtung des Indianerstammes, errichtet 1979. Damit waren die Seminolen die Ersten in den USA, die das Glücksspiel als Geldquelle für die Reservate nutzten.

Geschäftssinn und Gemeinsinn

 Galten früher die Bisonherden auf den Prärien als der Reichtum der Indianer, so ist es heute der «new buffalo», das Spielkasino. Für die Stammesmitglieder bedeutete dies eine grundlegende Veränderung ihrer ökonomischen Situation – es ist, als würde sich die Geschichte für das den Indianern zugefügte Unrecht entschuldigen. Es ist wie ein später Sieg. Lebten die meisten Seminolen in den Reservaten noch vor wenigen Jahrzehnten in Armut und Abhängigkeit, so sind diese desolaten Zustände heute einem wachsenden Wohlstand gewichen.

 Die Verbindung von Indianertum und wirtschaftlicher Betätigung (erst recht wirtschaftlichem Erfolg) galt lange Zeit als nachgerade unmöglich und wird auch heute von der Presse kritisch betrachtet. Seit dem 19. Jahrhundert herrscht die Vorstellung vor, dass die kollektive Orientierung der Indianer einem erfolgreichen Wirtschaften im Wege stehe. Das Leben und Denken in Stammeszusammenhängen sei nicht mit individuellem Erfolgsstreben zusammenzubringen. So gab es mehrere Versuche der USA, das Land der Reservate und auch Viehherden individuell aufzuteilen, was meist scheiterte. Die Einstellung zum Landbesitz wird in den überlieferten Worten des Indianerführers Tecumseh von 1810 deutlich: «Das Land verkaufen? Warum dann nicht auch die Luft, die Wolken oder die Seen?»

 Auch die Zeremonien des sogenannten Potlatsch («Fest des Schenkens») oder des «give-away», bei dem eine Indianerfamilie so viel an andere verschenkt, dass das soziale Gleichgewicht gewahrt wird, brachte calvinistisch-kapitalistische Missionare und Indianerbeauftragte an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Der Gedanke an individuelle Vorsorge oder das Einhalten einer geregelten Arbeitszeit war und ist bei den freiheitsliebenden Indianern nur sehr schwach ausgeprägt, hierarchische Unternehmensstrukturen werden vielfach nicht akzeptiert, Konkurrenzverhalten ist kulturell verpönt. So war es für die Gegner der Indianer ein Leichtes, die desolaten Zustände in den Reservaten – hohe Arbeitslosigkeit, Armut und Alkoholismus – der Mentalität der Indianer und nicht der Indianerpolitik der Regierung zuzuschreiben.

 Doch die Seminolen zeigen, dass eine Kultur des Kollektivs auch wirtschaftlich erfolgreich sein kann. Denn waren die Indianerstämme ursprünglich kollektiv ausgerichtet, was Landbesitz und Verteilung der Güter anbelangte, so ist auch die heutige Wirtschaftsform der «Seminole nation» eine kollektive Form, an der alle Mitglieder teilhaben. Aus dem Einkommen der stammeseigenen Betriebe werden monatliche Ausschüttungen an die Stammesmitglieder weitergegeben – eine Art bedingungslosen Grundeinkommens. Da diese Dividenden für alle Stammesmitglieder (auch Kinder) ausgeschüttet werden, kann so eine vierköpfige Familie auf ein Einkommen von knapp 100 000 Dollar jährlich kommen.

Privilegien und Probleme

 Auch damit nicht genug. Das Glücksspielgesetz, die Indian Gaming Regulatory Act, reguliert nicht nur die Einzelheiten des Glücksspiels, sondern auch die Verwendung der Einnahmen. Und diese sollen noch vor Ausschüttung einer Dividende zunächst dafür bestimmt sein, die politische Infrastruktur der Stämme zu finanzieren, soziale Einrichtungen zu schaffen und den allgemeinen Wohlstand des Stammes und seiner Mitglieder zu fördern. Konkret bedeutet dies, dass die Seminolen in den Genuss einer sozialen Absicherung kommen, von denen der amerikanische Normalbürger nur träumen kann. So ist die gesamte medizinische Versorgung kostenlos. Und wie die medizinische Versorgung ist auch die Erziehung und Bildung umsonst.

 Mit den sozialen Leistungen und der monatlichen Ausschüttung realisieren die Seminolen in Florida eine sehr ungewöhnliche Wirtschaftsform: eine Art Stammesgenossenschaft mit gemeinnütziger Ausrichtung. Sie integrieren damit ein Kollektivbewusstsein in eine adäquate wirtschaftliche Form jenseits des Individualbesitzes.

 Der Wohlstand bringt aber auch Probleme mit sich: Spannungen innerhalb des Stammes und argwöhnische Beobachtung von aussen. So brachte die «St. Petersburg Times» eine Reihe kritischer Artikel über Unregelmässigkeiten in den Spielkasinos und über die Verwendung der Gewinne. Vorwürfe, die Präsident Moses Osceola wenig anfechten. «Wir sind uns sehr wohl der negativen Aspekte des Glücksspiels bewusst», sagt der Indianer-Präsident und hebt gleichzeitig hervor, dass die Vorteile überwiegen: dass so sein Stamm unabhängig von den Zuschüssen der Regierung und wirtschaftlich selbständig werde, dass Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen worden seien und insgesamt die Wirtschaft von Florida davon profitiere.

 Mit dem Problem der indianischen Identität und deren Bedrohung durch den Glücksspiel-Geldsegen beschäftigt sich die Anthropologin Jessica Cattelino. In ihrer Untersuchung über die gegenwärtige Kultur des Indianerstammes nimmt sie allerdings keine kulturpessimistische Perspektive ein, die im Wohlstand zugleich das Ende der indianischen Kultur sieht. Vielmehr versteht sie den ökonomischen Erfolg als einen Weg, über die Integration in den Markt die kulturelle und politische Autonomie durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. Sie widerspricht damit dem verbreiteten Urteil, der Kasino-Materialismus zerstöre die traditionelle indianische Lebensweise: «Die Seminolen haben die Modernität weder völlig akzeptiert noch völlig zurückgewiesen, sondern sie haben versucht, sie nach ihren eigenen Spielregeln so weit wie möglich zu gestalten.»

 Der Kauf der Hard-Rock-Café-Kette durch den Indianerstamm macht im Ãœbrigen deutlich, dass die Seminolen künftig nicht nur auf die Kasinos setzen wollen. Man versucht verschiedene wirtschaftliche Standbeine aufzubauen. Nicht nur für Seminolen-Führer wie Moses Osceola ist klar: Der Weg aus der Abhängigkeit von einer Geldquelle führt über die Investition der Kasino-Einnahmen in andere Wirtschaftszweige – wie zum Beispiel in den Erwerb der Hard-Rock-Cafés. Auch Joe Frank, einer der Seminolen-Einwohner von Big Cypress, meint zu dem Deal, der unter den Ästen der Stammeseiche besiegelt wurde: «Es ist schon in Ordnung, wenn der Stamm sich wirtschaftlich auf das 21. Jahrhundert einstellt.»