New Deal

Münchner Pressebüro / Damals /

 

 

 

 

 

Das ungeschminkte Amerika

 

Die Fotografie des „New Deal“ zur Zeit der Weltwirtschaftskrise

 

 

Von Rudolf Stumberger

 

 

 

Es ist ein kalter und regnerischer Tag im März 1936, als ein einsames Auto auf der nassen Landstraße durch Kalifornien in Richtung Norden fährt. Hinter dem Steuerrad sitzt eine zierliche Person, auf dem Rücksitz liegt eine Kameraausrüstung. Die 41-jährige Dorothea Lange ist von der Arbeit der vergangenen Tage müde und abgespannt, sie denkt an ihre Familie und an die sieben Stunden Fahrt, die noch vor ihr liegen. Aus den Augenwinkeln heraus nimmt sie am Straßenrand ein Schild wahr: „Erbsenpflücker-Camp“. Sie fährt weiter, doch eine innere Stimme lässt ihr keine Ruhe.

„Dorothea, was war das für ein Camp?“

„Soll ich umkehren?“

„Nein, ich hab doch schon reichlich Aufnahmen von diesem Thema.“

„Und es regnet, wird da nicht die Kamera beschädigt?“

Schließlich tritt sie auf die Bremse, wendet und fährt die zwanzig Meilen zurück zum Camp der Wanderarbeiter. Viele dieser Wanderarbeiter stammen aus dem Norden, aus Oklahoma. Gewaltige Staubstürme haben dort das Land unfruchtbar werden lassen, die Farmen wurden aufgeben und nun ziehen diese Menschen mit Sack und Pack durch das Land, auf der Suche nach Arbeit.

Inmitten dieser Flüchtlinge trifft die Fotografin auf eine junge Frau, die mit ihren sieben Kinder in einem provisorischen Zelt haust. Sie packt ihre Kamera aus und fotografiert die Familie aus verschiedenen Einstellungen heraus. Etliche Jahre später schildert Dorothea Lange diese Szene so:

„Ich nahm die hungrige und verzweifelte Mutter wahr und wurde von ihr wie von einem Magneten angezogen. Ich weiß nicht mehr, wie ich ihr die Situation oder die Kamera erklärte, aber ich erinnere mich, dass sie keine Fragen stellte. Ich machte fünf Aufnahmen und kam ihr immer näher. Ich habe sie nicht nach ihrem Namen oder ihre Geschichte gefragt. Sie erzählte mir aber, das sie 32-Jahre alt sei und zuletzt von gefrorenem Gemüse der umliegenden Felder gelebt hätten. Und von den Vögeln, die die Kinder gefangen hätten. Die Familie  hatte gerade die Reifen ihres Autos verkauft, um essen zu kaufen. Da saß sie mit ihren Kindern in dem geliehenen Zelt und schien zu wissen, dass meine Bilder ihr helfen würden, und so half sie mir.“

 

Das Foto, das so entsteht, ist wohl das berühmteste Foto aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise in den USA der 1930er Jahre. Unter dem Titel: „Migrant Mother“ – „Heimatlose Mutter“, wird es eine der meistgedrucktesten Fotografien in der Geschichte des Lichtbildes, zu einem Symbol für die Jahre der Wirtschaftskrise und zu einer Ikone der klassischen sozialdokumentarischen Fotografie, die in diesen Jahren ihren Höhepunkt erlebt.

 

Als Dorothea Lange diese Aufnahme machte, ist sie nicht privat unterwegs, sondern – wie etliche andere Fotografen auch - im Auftrag einer Bundesbehörde, die später unter dem Namen „Farm Security Administration“ (FSA) bekannt wird. Diese Behörde hat vielfältige Aufgaben: Sie kümmert sich um die im Lande herumziehenden Wanderarbeiter und errichtet Zeltstädte als Notunterkünfte. Sie berät die Landwirte in technischen Fragen und gewährt Kredite. Sie siedelt Farmer von unfruchtbarem auf fruchtbares Land um und hilft ökologische Schäden wie die Bodenerosion zu beheben. Sie unterstützt die Gründung von landwirtschaftlichen Genossenschaften und hebt ganze Siedlungen im Grüngürtel von Städten aus der Taufe – die sogenannten „Greenbelt Towns“. All diese Maßnahmen sind Teil eines gigantischen Arbeitsbeschaffungs- und Erneuerungsprogramms, das unter dem Namen „New Deal“ in die Geschichte einging. Ein Programm, mit dem in bisher nicht bekannten Ausmaße der Staat als Wirtschaftslenker eingriff um so die Katastrophe der Weltwirtschaftskrise zu bewältigen.

 

Eine Katastrophe, die mit dem Börsenkrach von 1929 ihren Anfang nahm. Dabei hatte man noch 1928 geglaubt, die Welt sei in Ordnung. Enorme Produktionssteigerung in der Industrie und die Herstellung von Massengütern in den zurückliegenden Jahren hatten den damaligen amerikanischen Präsidenten Calvin Coolidge hoffnungsfroh und zufrieden in die Zukunft sehen lassen, wie folgende Rede verdeutlicht: „Die existenziellen Grundbedürfnisse haben sich vom Standard des Notwendigen in den Bereich des Luxus bewegt. Wachsende Güterproduktion wird von zunehmender Nachfrage zu Hause und expandierendem Kommerz im Ausland konsumiert. Das Land kann die Gegenwart mit Zufriedenheit betrachten und der Zukunft mit Optimismus entgegensehen.“

 Mit Herbert Hoover wählten die Wähler 1929 am Vorabend der Katastrophe einen republikanischen Präsidenten, der als Garant für die Fortsetzung der wirtschaftlichen Prosperität angesehen wurde. Diese Welt des schönen Scheins aber wurde kurz darauf erschüttert: Das Jahr 1929 brachte mit seinem Börsenkrach den Beginn einer gewaltigen wirtschaftlichen Rezession und damit den Beginn einer der tiefsten Krisen, denen sich die Welt bis dahin gegenübersah. In Folge dieser Krise stieg bis Anfang/Mitte der 1930er Jahre die Zahl der Arbeitslosen in den USA auf bis zu 14 Millionen. Die industrielle Produktivität ging hingegen um ein Drittel zurück, zwischen 1929 und 1931 halbierte sich z.B. die Zahl der hergestellten Automobile. Die ausländischen Investitionen reduzierten sich von 1,5 Milliarden US-Dollar 1928 auf 88 Millionen im Jahre 1932. Reihenweise schlossen Banken ihre Schalter: 1931 gingen 2294 Geldhäuser in den Bankrott und nahmen dabei 1,7 Milliarden Dollar Einlagen mit in den Abgrund. Die Einkommen aus Arbeit fielen von 53 Milliarden Dollar (1929) auf 31,5 Milliarden (1933), die Summe der ausgezahlten Fabriklöhne von fast 12 Milliarden auf ca. 7 Milliarden. Die Weltwirtschaftskrise hatte die USA schwer getroffen.

 

Die sozialen Auswirkungen der Krise betraf alle Bereiche des alltäglichen Lebens. Hunderttausende von bisher berufstätigen Frauen kehrten (gezwungenermaßen) an den heimischen Herd zurück, arbeitslose junge Erwachsene verschoben ihre Ehe- und Kinderpläne. Die Zahl der geschlossenen Ehen sank von 1,2 Millionen 1929 auf 982000 im Jahre 1932, es wurden weniger Kinder geboren. Vor den Suppenküchen der Wohlfahrtsorganisationen bildeten sich lange Warteschlangen und Hunger wurde wieder zu einem alltäglichen Phänomen. In Chicago waren 40 Prozent der Einwohner arbeitslos.

In dieser Situation glaubten immer weniger Amerikaner an das Versprechen des Präsidenten Herbert Hoover, der wirtschaftliche Aufschwung stünde schon an der nächsten Ecke bereit. Sie verlangten nach einer neuen Führung und einer neuen Politik und machten dies 1932 an den Wahlurnen zugunsten des Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, Franklin D. Roosevelt, deutlich. Sein Name ist untrennbar verbunden mit dem sogenannten „New Deal“ – der Krisenbewältigung in den USA durch massive staatliche Interventionen.

Dieser „New Deal“ bestand aus einer ganzen Reihe wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen von Seiten des Staates, mit denen die Wirtschaftskrise überwunden werden sollte. In der ersten Phase des New Deal versuchte man es mit der finanziellen Unterstützung der Unternehmen, um die wirtschaftliche „Pumpe“ wieder in Gang zu bringen: Mit der angeordneten Schließung von Banken, der Abwertung des Dollars und einem Ausfuhrverbot von Gold um die Währung zu stabilisieren sowie einem „deficit spending“ – also einer Überziehung der öffentlichen Haushalte – um die Nachfrage wieder zu beleben. Die zweite „linke“ Phase des New Deal (ab 1935) stärkte vor allem die Position der Arbeiter und Farmer: Durch den „National Labor Relations Act“ wurde den Arbeitern gesetzlich das bis dahin verweigerte Organisations- und auch das Streikrecht zugesichert, mit dem „Social Security Act“ wurde die lange geforderte Arbeitslosen-, Invaliden-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung eingeführt.

Träger und Umsetzer vieler Maßnahmen des New Deal waren teilweise neu gegründete staatliche Organisationen, die sprachlich einen ganzen Wald an Abkürzungen wie z.B. „WPA“ mit sich brachten. Hinter WPA – „Work Progress Administration“  verbarg sich ein riesiges Arbeitsbeschaffungsprogramm, durch das Arbeitslose ein geringfügiges Einkommen hatten und durch das im ganzen Land Schulen, Brücken, Krankenhäuser oder Flughäfen gebaut und Straßen, Parks und Sportstätten angelegt wurden.

 

Die Tätigkeit dieser Behörden war politisch nicht unumstritten. Viele konservative Amerikaner sahen in dem Engagement des Staates eine Bedrohung der wirtschaftlichen Freiheit und malten das Gespenst der Planwirtschaft an die Wand. Wenn eine staatliche Behörde so Dinge wie die Planung von ganzen Vorstädten durchführe, so sei dies eine unlautere Konkurrenz gegenüber der freien Bauwirtschaft, war zum Beispiel ein Vorwurf an die „Farm Security Administration“. Um dieser Kritik entgegentreten zu können und um die Wähler von den staatlichen Maßnahmen zu überzeugen, setzte die FSA auf eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit. Das fotografische Bild spielte dabei eine große Rolle, denn die Fotografie umgab der Nimbus des Authentischen, des Wahren. Das Foto wurde als Dokument, als Beweis für Tatsachen angesehen. Und so wurde innerhalb der Presseabteilung der FSA eine eigene Fotoabteilung, die sogenannte „Historical Section“, ins Leben gerufen.

 

Roy Stryker leitete die „Historical Section“ von 1935 bis 1942, als die Abteilung schließlich in dem „Office of War Information“ (OWI) aufging. Die Hauptaufgabe der „Historical Section“ bestand in der Herstellung und der Verteilung von fotografischen Bildern an die Presse, um so die Notwendigkeit der Arbeit der Behörde zu dokumentieren. Nach anfänglichen Versuchen mit den fotografischen Abteilungen anderer Bundesbehörden entschied sich Stryker für den Aufbau einer eigenen fotografischen Infastruktur, dazu gehörte die Installation einer Dunkelkammer und die Anstellung von mehreren Fotografen, die ausschließlich für ihn arbeiten sollten. Zu diesen Fotografen gehörten Arthur Rothstein (1915 – 1985) von der Columbia Universität, Walker Evans (1903 – 1975) und Carl Mydans (1907 -) sowie Dorothea Lange (1895 – 1965). Auch Ben Shahn (1898 – 1969), der eigentlich als Künstler engagiert war, steuerte Fotografien, die er als Vorlage für seine Bilder gemacht hatte, bei. Später kamen Russell Lee (1903 – 1986) und andere hinzu.

Dieses Fotografen schwärmte nach den Vorgaben von Stryker aus, um in den ländlichen Gebieten der USA „Feldarbeit“ zu leisten, d.h. die Lebensbedingungen der armen Farmer, die Erosion der Böden, die Wellblechbaracken der umherziehenden Wanderarbeiter und vertriebenen Landpächter – und nicht zuletzt die Maßnahmen der Behörde wie den Bau von Siedlungen und die Errichtung von Zeltstädten fotografisch zu dokumentieren. Die einzelnen Fotografen fuhren zu diesem Zweck teilweise mehrere Wochen oder Monate übers Land. Sie verdienten 2300 Dollar pro Jahr, für jede gefahrene Meile im eigenen Auto gab es 4,5 Cent zusätzlich (Arbeitslose verdienten damals in den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen an die 50 Dollar pro Monat). Die inhaltlichen Schwerpunkte dieser fotografischen Dokumentationsarbeit veränderten sich während des Bestehens der „Historical Section“. Zu Beginn standen die Dokumentation des ländlichen Elends und die ökonomischen und ökologischen Probleme der Farmer im Vordergrund. Ab 1937 verbreitete sich das Themenfeld: Man interessierte sich nun auch für die Kleinstädte im ländlichen Raum. Wo treffen sich die Einwohner? Was machen sie des Abends zu Hause? Unterscheidet sich die Kleidung der Menschen in den kleinen Städten von denen in den größeren Städten?  Insgesamt entstanden unter der Regie der FSA mehrere hunderttausend Fotografien (rund 270000 Abzüge und Negative). 1944 wurde die FSA-Sammlung bei Auflösung der Dokumentationsabteilung schließlich der „Library of Congress“ in Washington übergeben, die heute 170000 FSA-Fotografien in ihren Beständen hat. Sie sind das Ergebnis des wohl größten organisierten Fotoprojektes in der Geschichte der Fotografie und diese Bilder prägen unsere Vorstellungen über das Amerika der Depressionszeit. Sie zeigen ein Amerika, das unter der wirtschaftlichen Krise leidet und sie zeigen das Elend der land- und arbeitslosen Familien, aber auch den Stolz und die Würde der Menschen. Sie sind aber nicht nur soziale Dokumente dieser Zeit, sondern auch Meilensteine der Fotografie. Wenn John Steinbeck mit seinem berühmten Roman „Die Früchte des Zorns“ den Wanderarbeitern ein literarisches Denkmal gesetzt hat, dann haben dies im visuellen Sinne die Fotografen der FSA getan. Und sie haben mit ihren Fotografien nicht nur Geschichte geschrieben, sondern den Menschen auch konkret geholfen: Nachdem Lange ihr Foto der „Heimatlosen Mutter“ in der Presse veröffentlicht hatte, wurden von den Behörden Lebensmittel in das Camp der Erbesenpflücker gebracht, um die Not zu lindern.

 

FSA-Fotos im Internet

 

Die Fotografien der FSA sind im staatlichen Auftrag entstanden und „gehören“ nach guter amerikanischer Tradition somit der Allgemeinheit. Die „Library of Congress“ hat mittlerweile einen Großteil der Fotografien über das Internet zugänglich gemacht und sie sind unter der Web-Adresse http://lcweb2.loc.gov/pp/pphome.html einsehbar. Man landet auf einer Liste mit verschiedenen Foto-Sammlungen und muss auf „Farm Security Administration/Office of War Information Black-and-White Neagatives“ klicken (hier gibt es auch eine interessante Abteilung mit seltenen Farbfotografien aus dieser Zeit). In das nun auftauchende Suchfenster ist der Name eines FSA-Fotografen einzugeben, z.B. Lange, dann wird man zu den Fotografien umgeleitet.  

 

 Eine Fotografie des Mitgefühls

 

Die Fotografen der FSA haben mit ihrer Arbeit – und jeder mit seinem eigenen Stil - ein ungeschminktes Bild der USA gezeichnet. Dorothea Lange (1895 – 1965) steht dabei für eine Fotografie des Mitgefühls und der Sympathie mit den Opfern der Wirtschaftskrise. Vielleicht weil sie selbst nicht unbedingt auf Rosen gebettet war. Geboren wurde sie als Dorothea Margaretta Nutzhorn 1895 in Hoboken, New Jersey. Mit sieben Jahren erkrankte sie an Kinderlähmung, was eine fortwährende Behinderung des rechten Beines mit sich brachte. Die Krankheit wie auch der Weggang des Vaters prägte ihre Kindheit nachhaltig. Nach einer Fotografenlehre brach sie im Alter von 23 Jahren mit einer Freundin zu einer Weltreise auf, die allerdings in San Francisco endete, als man den jungen Frauen das ganze Geld stahl. Dafür eröffnete sie ein Portraitstudio und fotografierte die reichen Familien der Westküste. Als mit dem Börsenkrach diese Einkommensquelle versiegte, wandte sich Dorothea Lange sozialen Themen zu. Mit ihrem späteren Mann, dem Wirtschaftswissenschaftler Paul Taylor beginnt sie  das Elend der Landarbeiter zu fotografieren. Diese zogen mit Sack und Pack von den aufgegebenen Farmen in Oklahoma nach Kalifornien, um hier Arbeit auf den Obst- und Gemüsefeldern zu finden. Von 1935 bis 1939 fotografiert Dorothea Lange für die staatliche Behörde, danach arbeitete sie für das Kriegsministerium und später für Zeitschriften. 1966, ein Jahr nach ihrem Tod, widmet ihr das berühmte Museum of Modern Art (MOMO) in New York  eine eigene Ausstellung.