Zimt

Dr. Stumberger / Galizien /

 

 

H: Das Land der traurigen Dichter

 U: Eine Reise in die West-Ukraine, dem einstigen Galizien 

  

Von Rudolf Stumberger

  

Vor mir liegt eine Landschaft seltsam unspektakulär. Flach und grün, Wiesen und abgeerntete Felder. Dazwischen eine Asphaltstraße, die an den Rändern ausfranst und mit Rollsplitt und Schlaglöchern übersät ist. Hinter mir liegt der polnisch-ukrainische Grenzübergang, der Übertritt vom Schengen-Land in ein unbekannte Zone. Dieser Übertritt beginnt mit der Auferstehung kafkaesker Bürokratie an den Rändern der EU-Zone - lang sind die Auto-Warteschlangen der rückreisenden Ukrainer und manchmal öffnet sich das Fensterchen am Kontrollpunkt und manchmal nicht. Viel ist wie früher.

 

„Klack“ macht der zweite Gang und ich gebe Gas und „Klack“ macht der dritte Gang meines Motorrades und ich fahre hinein in die Westukraine und es wird langsam dunkel und schließlich Nacht und ich hoffe Drohobic kommt bald, Drohobic dieses Provinzstädtchen inmitten Galiziens. Ich fahre ja nicht nur in die Ukraine, ich fahre vielmehr auch in dieses Galizien, wie dieser nordöstliche Teil des ehemaligen K.u.K.-Reiches bis zu dessen Untergang 1918 hieß, in dieses literarische Beziehungsgeflecht zwischen Orten und Schicksalen. Es ist Nacht geworden und ich sehe nichts außer dem schmalen Lichtkegel meines Scheinwerfers und diese Drecksstraße mit ihren Schlaglöchern und ab und zu tauchen am Straßenrand Fußgänger auf, schemenhaft und dunkel. Sehr lange ist es her, dass auf diesen Feldern und Wiesen, die ich jetzt unter meinem Motorradhelm nur mehr ahnen kann, sich die hölzernen Bohrtürmen in die Höhe streckten. Um 1870 wurde diese Region auch das „galizische Pennsylvanien“ genannt, mit Drohobic als Zentrum. Als „galizische Hölle“ galt das Dorf Boryslaw, dort roch die Luft nach Petroleum und Paraffin, planlos ragten auf den Berghängen die Bohrtürme aus dem Boden, in den schillernden Öllachen zwischen den morastigen Pfaden spiegelte sich der graue Himmel. Ein wahrer Öl-Rausch hatte die Region erfasst, allein in der kleinen Gemeinde von Boryslaw wurden 1871 an die 1200 Unternehmer gezählt, die 3500 Schächte betrieben. Viele der Kleinunternehmer wurden von großen Kompanien wie die „Galizische Karpathen-Petroleum-AG“ geschluckt, die das Petroleum in alle Welt exportierten, damals lag Galizien in der Weltproduktion von Erdöl an vierter Stelle. Mancher Bohrturm machte seinen Besitzer über Nacht zum Millionär, doch für die Arbeiter - Männer, Mädchen, Kinder - waren die Ölfelder eben die „Hölle“. „Die Luft war erfüllt vom beißenden Geruch von Naptha und rohem Erdwachs. Zwischen den einzelnen Gruben rannen träge kleine Bächlein des schmutzig-gelben Grundwassers dahin, auf denen dunkle Augen von Naptha-Öl schwammen, die in der Sonne metallen schimmerten. Um die Öffnung der Schächte lag in unregelmäßigen Wällen das in Kübeln aus der Tiefe heraufgeschaffte Haldenmaterial, Lehm, Schotter und Sandstein, und um jeden dieser Haufen stand mißmutig eine Gruppe von schmutzüberkrusteten, abgerissenen Handlangern, die ihre Arbeit lustlos, ohne Scherzworte oder gar Lieder verrichteten“, beschrieb der naturalistische Schriftsteller Artur Gruszecki diese Öl-Landschaft in seinem Roman „Für eine MiIlion“ (1910).

Drohobic war vor diesem Ölrausch eine staubige und verschlafene Provinzstadt gewesen, danach glich es einer Goldgräberstadt im Wilden Westen um schließlich zu einer respektablen Kleinstadt heranzuwachsen, mit den Verwaltungsgebäuden der Förderkompagnien und den Villen der Ölmillionäre. Eine Stadt mit einem bunten Völker- und Sprachgemisch, hier wurde jüdisch, deutsch, polnisch und ukrainisch gesprochen.

 

Es ist ein tiefes Schlagloch, das mich wachrüttelt, als ich die Stadtgrenze von Drohobic - endlich - passiere. Ich sehne mich nach Licht, nach Wärme, nach etwas zu essen und zu trinken, ich bin müde. Doch in der Stadt herrscht ein seltsam funzeliges Licht von einigen trüben Laternen, die Straßen mit ihren nassen Kopfsteinpflaster machen das Motorradfahren nicht einfacher. Es wird rund eine Stunde dauern, bis ich das einzige Hotel der Stadt gefunden habe. Das Hotel, an dem ich schon dreimal vorbeigefahren bin und dem von außen nichts, aber auch gar nichts anzusehen ist, dass es ein Hotel ist. Das keine Autozufahrt besitzt und dessen Eingang durch einen Pulk rauchender und biertrinkender Jugendlicher blockiert wird, die schubweise aus der Disco strömen. Ein Hotel, dessen Hausmeister mir bedeutet, dass Parken auf dem Gehsteig verboten ist und mich nach einigen Wortgefechten schließlich in ein umzäuntes Gelände lots. Es ist schon spät, kein akzeptables Restaurant mehr offen und was noch folgt, ist eine Art Nah-Kampf mit Vollkörperkontakt in einem überfüllten kleinen Laden, der Alkohol verkauft, um drei Flaschen Bier. Dann falle ich in meinem Zimmer im Zweiten Stock des Hotels ohne Autozufahrt auf das Bett und im Fernsehen läuft ein Zweiter-Weltkriegs-Epos in ukrainischer Sprache.

 

Galizien ist eine östliche Region mit traurigen Menschen und tragischen Schicksalen. Ich bin nur erschöpft und genervt und will wieder raus hier, raus dieser tristen Zone, die noch sehr viel mit dem ehemaligen „real existierenden Sozialismus“ gemein hat. „Die Ukraine ist kein Land für Individual-Touristen steht in meinem Reiseführer“. Stimmt. Und warum bin ich hier, trinke Bier in einem Hotelzimmer und schaue fern? Vielleicht wegen Bruno Schulz, einem dieser tragischen Schicksale in Galizien.

Der Marktplatz von Drohobic ist viereckig und weit, in der Mitte steht das Rathaus. Alfred Döblin hat ihn 1924 beschrieben: Voll mit Buden und Tischen, Pferden und Gespannen, alles in Lehm und Unrat von Stroh, Schutt und Abfällen versinkend. Heute ist der Platz gepflastert, aufgeräumt, leer. In einem Eckhaus des Platzes wurde 1892 Bruno Schulz, Sohn des jüdischen Seidenwarenhändlers Jakub Schulz, geboren. Die folgenden 50 Jahre sahen Bruno Schulz als Lehrer für Zeichnen und Handarbeiten am ehemaligen k.k.Franz-Josephs-Gymnasium, 1934 erscheint in Warschau der erste Band seiner Erzählungen „Die Zimtläden“. In ihnen wird die Kindheits-Welt wieder lebendig: „Durch die dunkle Wohnung im ersten Stock des steinernen Hauses am Ring ging jeden Tag der ganz große Sommer hindurch: die Stille zitternder Luftschichten, die glänzenden Sonnenquadrate mit ihren fanatischen Träumen auf dem Fußboden, die Melodie eines Leierkastens, aus der tiefsten goldenen Ader des Tages geholt...“. Obwohl Schulz in Wien an der Kunstakademie studiert hatte, oft nach Lemberg fuhr und einmal sogar eine Reise nach Paris unternahm, bleib die Provinz sein Schicksal, konnte er sich nie von der Kleinstadt und den kleinstädtischen Verhältnissen, von Vorortstraßen, leeren Nachmittagen und Schulroutine lösen. Seine Phantasien und Begierden, Wünsche und Beobachtungen zeichnet er auf, „Götzenbuch“ nennt er eine Mappe mit Grafiken, die erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht werden. Sie zeigen eine Fetisch-Welt mit dominanten Frauen, die über kriechenden Männer die Peitsche schwingen, eine bizarre masochistische Kleinstadt-Welt der Unterwerfung. Im November 1942 wird Bruno Schulz als Jude auf der Straße von einem Gestapobeamten erschossen.

 

Ich sitze auf einer niedrigen Mauer und blicke hinüber zu der Ecke des Marktplatzes, an der das Geburtshaus von Bruno Schulz schon 1915 abgebrannt ist. Hinter mir in der orthodoxen Kirche knien Frauen und beten, andere Küssen das Glas auf den ausliegenden Ikonen um es danach mit einem bereitliegenden Lappen wieder zu reinigen. Ich gehe einmal um den Platz herum, zwei kleine Mädchen zupfen an meinen Ärmeln und betteln, trollen sich aber wieder. Ist es nicht absurd, den Spuren eines Bruno Schulzes anhand von Steinen und Plätzen zu folgen, die verwehte Vergangenheit einfordern zu wollen, wo doch die Gegenwart der Ukraine zupfend an einen herantritt?

In Drohobic werden die Unterschiede zu den EU-Ländern deutlich: Sehr vieles erinnert an die Zeiten des ehemaligen Ostblocks, Straßen und Häuser sind in maroden Zustand, die Menschen sind weniger modisch, weniger westlich, weniger modern gekleidet als zum Beispiel schon in der benachbarten Slowakei. Auf einem Markt wird alles verkauft, vom Hosenträger bis zur Musik-Cassette, manchmal auch nur ein oder zwei Fische - die Menschen hier sind arm, vor allem die Rentner und Arbeiter. In einer Seitenstraße fingert ein junger Mann an seinem Motorrad Marke Ural herum, der Vergaser tut’s nicht und er hat kein Geld für Ersatzteile, erzählt er mir mit ein paar Brocken Englisch. Schließlich springt die alte Maschine aber doch an und beglückt packt er sein Werkzeug zusammen und rattert mit seiner Freundin auf dem Sozius von dannen.

 

Es ist Mittag und als ich zu meinem Motorrad in der Umzäunung gehe hat sich dieser Ort in einem belebten Parkplatz verwandelt. Der Parkplatzwächter - ein Pensionär - gibt mir zu verstehen, dass ich meine Lichtmaschine, meinen Bremsflüssigkeitstank und die Batterie ihm zu verdanken habe. Denn ohne ihn - dem Wächter - wären sie längst abgeschraubt worden. Ich gebe ihm fünf Griwna.

 

Ich werde nicht nach Brody fahren, jenes „eintönige und langweilige“ galizische Nest hundert Kilometer östlich von Lemberg, wie es Joseph Roth bezeichnet hat. Roth, der berühmte Journalist und Schriftsteller, Autor von Romanen wie „Radetzkymarsch“ und „Hotel Savoy“, ein begnadeter Schreiber und Trinker, geboren 1894 in Brody, das er allerdings verleugnete. Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten strandete er in Paris und starb armselig in einem Hospital. An jeder Ecke von Galizien kann man auf diese Vergangenheit, auf das Schicksal von Literaten und Künstlern treffen - neben Joseph Roth und Bruno Schulz etwa auf Paul Celan, dem Dichter der „Todesfuge“ oder die Lyrikerin Rose Ausländer und dem Lyriker Alfred Sperber - sie stammten alle aus dem galizischen Czernowitz, der Großstadt südöstlich von Lemberg. Ihre Existenz aber ist eine der Segmentschichten der Vergangenheit, nichts an den stehen gebliebenen Mauern erinnert an sie, man muss Erinnerungsarbeit leisten, und die Orte ihres Seins mit Büchern in der Hand wieder zum Leben erwecken.

 

Ich bin wieder unterwegs. Wenige Kilometer hinter Drohobic biege ich in eine kleine Nebenstraße ein, die mich nach Nove Selo führt. Das Dörfchen hieß sehr viel früher Neudorf und hier lebten deutsche Kolonisten, die im Jahre 1783 vom österreichischen Kaiser nach Galizien geholt wurden. Auch an ihre Geschichte erinnert nichts mehr, menschenleer zieht sich die Dorfstraße dahin, nur ein Hund trabt träge umher. Doch in den ukrainischen Karpaten, so lese ich in meinem Reiseführer, gibt es noch ein Örtchen mit deutschsprachigen Einwohnern, deren Vorfahren 1775 aus dem österreichischen Salzkammergut - aus der Gegend um Ischl und Gmunden - hierher kamen.

Die Schnellstraße E 50 Richtung Süden zur ungarischen Grenze ist zu meiner großen Überraschung sehr gut ausgebaut, es lässt sich prächtig fahren, die Sonne scheint, die Hügel sind grün und der Verkehr gering. Ich komme rasch voran und bin fast schon wieder mit diesem Lande ausgesöhnt. Schließlich stoße ich an einer Wegkreuzung auf einen Miliz-Posten, der mich aber anstandslos weiterwinkt. An einer modernen Tankstelle mache ich Rast, genehmige mir einen Cafe und genieße die Sonnenstrahlen. Es ist noch früh am Nachmittag und ich könnte, so keimt in mir der Gedanke, doch noch dieses deutsche Dörfchen besuchen, ein Hotel läge auf der Strecke.

Der Plan ist gut und schließlich biege ich von der E 50 ab Richtung  Mizhirja, einem Städtchen in den Karpaten, gut 50 Kilometer entfernt. Die Fahrt geht hinauf in die Berge, an urwüchsigen Karpatendörfern vorbei und hinein in die Wolken. Es dauert lange, bis ich Mizhirja erreiche, fast dunkelt es schon. Ich finde auch das Hotel, ein größerer Holzbau, und fühle mich schon gerettet. Zu früh gefreut: Das Zimmer ist eher eine Zumutung als eine Bleibe, der kümmerliche Teppich strotzt vor Dreck, an der Decke prangt ein riesiger Wasserfleck, wenn’s regnet, regnet’s durch. Doch mir bleibt keine Wahl, ich packe mein Gepäck aus und freue mich auf eine Mahlzeit und ein Bier. Doch die nächste Überraschung kommt prompt: Der Schlüssel außen an der Tür lässt sich zwar drehen, aber nicht abziehen. Ich habe also die Wahl entweder zu verhungern oder mir mein Gepäck klauen zu lassen. Ich ziehe das Essen vor und begebe mich auf eine Zwei-Kilometer-Wanderung auf der nächtlichen Dorfstraße zum einzig nahen Restaurant. Als ich wieder zurückkomme, ist glücklicherweise noch das Gepäck noch da.

Der nächste Tag beginnt mit einem Nieselregen und einer Tasse Cafe auf der Veranda vor der kleinen, miesen, verrauchten Hotel-Kneipe, in der eine mürrische Bedienung nur halbherzig gegen die Trostlosigkeit anhantiert. Um sieben Uhr genehmigt sich ein erster Trupp verschlafener Männer ihr ukrainisches Frühstück: Wodka, Bier und Zigaretten. Dann trotten sie über die Straße und verschwinden in zweistöckigen Gebäuden. Ich bin froh auf meine Maschine steigen zu können und fahre los, trotz des immer noch anhaltenden Regens.

Der Plan - stellt sich heraus - war doch nicht gut. Als ich noch knapp 20 Kilometer vor Königsfeld (Ukrainisch: Ust-Corna) - so heißt das deutsche Dörfchen - bin, passiere ich bei dem Ort Kolocava, eigentlich mehr aus den Augenwinkeln heraus, eine Abzweigung, die als einer Art Steinpiste den Hügel hinauf geht. Das kann es nicht sein, entscheide ich sofort und fahre auf meiner „normalen“ Straße weiter. Nach einigen Kilometern löst sich diese allerdings auf, wird zu einer Geröllpiste mit unzähligen Schlaglöchern, die bis zum Rande mit Regenwasser gefüllt sind. Es wird immer schlimmer und schließlich spreche mit einem Mann am Straßenrand. Nein, sagt er, die Straße nach Königsfeld ist mit dem Motorrad nicht befahrbar. Vielleicht mit einem Allrad. Ja, sagt er, die Schlaglochpiste geht noch fünf Kilometer so weiter bis es besser wird.  Für diese fünf Kilometer brauche ich ungefähr eine Stunde und als ich wieder ein Fitzelchen Asphalt unter den Reifen habe, bin ich fix und fertig.

Von jetzt ist klar, es gibt nur noch eine Richtung: Ab zur ungarischen Grenze. Irgendwann lasse ich endlich die Berge der Karpaten hinter mir und biege auf die Überlandstraße P3 ein, sie ist leidlich befahrbar. Und irgendwann stehe ich schließlich am ukrainischen-ungarischen Grenzübergang. Auch hier wieder das Schauspiel der langen Autoschlangen rückkehrender Ukrainer, die nur tröpfchenweise in ihr Land gelassen werden. Ihre Autos blockieren sogar die rechte Fahrspur hinüber nach Ungarn doch als Motorradfahrer überwinde ich auch dieses letzte Hindernis durch Schlangenfahrt.  Ich verlasse diese geschichtsträchtige Region mit ihren traurigen Dichtern, den abgeschiedenen Bergdörfern und den miserablen Straßen. Drüben, im Lande der Magyaren, begrüßen mich Sonnenblumen am Wegesrand.