Godin

Dr. Stumberger / Familistère / Bauwelt / 10. März 2004

 

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Das Projekt Utopia

 

 

Das Wohn- und Genossenschaftsmodell von Jean-Baptiste André Godin in Guise

 

 

 

 

Von Rudolf Stumberger

 

 

Das kleine französische Städtchen Guise liegt in der Picardie nahe der belgischen Grenze, rund 150 Kilometer nordöstlich von Paris. Die Region um das Flüsschen Oise ist von Landwirtschaft geprägt, aber etliche der 6000 Einwohner haben einen Arbeitsplatz  in der ansässigen Leichtindustrie gefunden, hier werden zum Beispiel Kleiderbügel oder elektrische Lichtschalter hergestellt. Bekanntester Sohn der Stadt ist Camille Desmoulins, der in der französischen Revolution den Sturm auf die Bastille anführte, sein Denkmal ziert den Hauptplatz. Als eines der ältesten Bauwerke der Stadt gilt die Festungsanlage der Herzöge von Guise, der mächtige Burgfried aus Granit auf dem Hügel über der Stadt stammt aus dem 12. Jahrhundert. Das interessanteste Gebäude-Ensemble der Stadt aber ist an einer Biegung der Oise außerhalb des Stadtkerns zu besichtigen – die „Sozialpaläste“ von Godin. Ein architektonisches Unikum mit über 500 Wohnungen, in der früher die Arbeiter der nahen Ofenfabrik wohnten. Zu der Mitte des 19. Jahrhunderts erbauten Großwohnanlage gehörten auch ein Theater, Schulen, Restaurants, Läden, ein Schwimmbad, eine Kinderkrippe und ein Lehrgarten mit Gewächshäusern. Auch diese Gebäude sind erhalten. Die Anlage ist ein Beispiel für einen frühen „sozialen Wohnungsbau“ und wird heute in Frankreich als „Nationales Monument“ eingestuft. Unter dem Projektnamen „Utopia“ ist zur Zeit eine Trägergesellschaft dabei, das Gebäude-Ensemble zu restaurieren und Teile davon einer musealen Nutzung zugänglich zu machen. Denn es stellt eines der besterhaltensten Monumente an Industriekultur und einer „Architektur der Utopie“ in Europa dar.

 

Ein erfolgreicher Ofenfabrikant

 

Die Geschichte der „Familistère“, so der Name der Großwohnanlage, ist auch die Geschichte des erfolgreichen Unternehmers, Politikers und Utopisten Jean-Babtiste André Godin (1817 – 1888). In einem Dörfchen nahe Guise als Sohn eines Schmiedes geboren, besuchte er bis zum Alter von elf Jahren die Schule und arbeitete anschließend in der väterlichen Schmiede. Mit 18 Jahren begibt sich Godin mit seinem älteren Cousin auf Wanderschaft. Sie führt ihn durch ganz Frankreich und diese Zeit wird prägend für sein ganzes Leben. Er lernt am eigenen Leibe die Mühsal des Lebens als Arbeiter kennen und schwört sich, sollte er eines Tages über die notwendigen Mittel verfügen, werde er das Los der Arbeiter bessern. Zurückgekehrt in die Picardie, gründet Godin 1840 mit einem kleinen Darlehen seines Vaters eine Ofenfabrik, die er schließlich nach Guise verlegt. Die Geschichte dieser Fabrik ist eine einzige Erfolgsgeschichte: Im Jahr 1846 werden insgesamt 735 Öfen produziert, vier Jahre später sind er bereits 100 Öfen pro Tag. Die Zahl der beschäftigten Arbeiter steigt innerhalb von zehn Jahren von anfänglich zwei auf 180, dreißig Jahre später arbeiten 1500 Menschen in der Ofenfabrik in Guise. Der Erfolg gründet sich auf eine Erfindungen von Godin, die er sich patentieren lässt: Das Verfahren, Öfen aus Gusseisen statt aus Eisenblech herzustellen. So entstehen kleine und handliche Kanonenöfen für jedermann, später werden auch Herde, Badewannen oder Bistrotische fabriziert. Der Aufstieg der Fabrik fällt in die Zeit der Industrialisierung Frankreichs und man kann in diesen Jahren rasch ein Vermögen erwerben.

 

20 Jahre nach Gründung seiner Fabrik ist Godin ein reicher Mann. Doch er will diesen Reichtum nicht für sich behalten. Jetzt ist die Zeit dafür gekommen, seine Gedanken aus den entbehrungsreichen Wanderjahren in die Tat umzusetzen. Vorbild ist ihm dabei der Utopist Charles Fourier (1772 – 1837), dessen Ansichten er über einen Artikel in der Lokalpresse kennenlernt. Fourier ist ein scharfer Kritiker seiner Zeit und geißelt in seinen Schriften den „Krieg aller gegen alle“, wie er das Wirtschaftsleben bezeichnet. Dem setzt der aus einer Kaufmannsfamilie stammende Fourier eine freiwillige „Assoziation“ von mehreren hundert Familien entgegen, die gemeinsam in einem „Sozialpalast“ – der Phalanstére - wohnen und arbeiten sollen. Mehrmals versuchen die Anhänger Fouriers, dessen Idee der Großkommune Wirklichkeit werden zu lassen und gründen in der Neuen Welt utopische Siedlungen. Auch Godin unterstützt 1853 ein derartiges soziales Experiment in Texas mit immerhin einem Drittel seines Vermögens. Es scheitert schließlich, wie alle anderen auch. Daraufhin beschließt Godin seine eigene Utopie zu realisieren: 1859 wird mit dem Bau der Sozialpaläste begonnen – die „Familistère“ entsteht. Sie werden zur komfortablen Wohnstätte für die Arbeiter seiner Ofenfabrik. Beides, Familistère und Fabrik, überträgt Godin schließlich 1880 in Form einer „Association“ an seine Mitarbeiter.

 

 

Eine „soziale Architektur“

 

Wie bei Fourier und den anderen Utopisten auch nehmen in dem politischen und sozialen Gedankengebäude Godins die Vorstellungen über das angemessene Wohnen einen wichtigen Platz ein. Die Wohnung ist tatsächlich eine der ersten Voraussetzungen für das Glück des Menschen, schreibt er in seinen 1871 erschienen Buch „Solutions Sociales“, den „sozialen Lösungen“. Dieses Glück aber liegt seiner Meinung nach nicht in alleinstehenden, voneinander isolierten Arbeiterhäuschen wie etwa in der Arbeitersiedlung „cité ouvrière“, die zu dieser Zeit von Fabrikanten in Mühlhausen gebaut wird. Diese Kleinhäuser lehnte Godin als unreflektierte Wünsche der Unwissenheit  („désirs irrefléchis de l’ignorance“) ab. Obwohl von ihnen (den Arbeiterhäuschen) behauptet werde, dass durch die Vereinzelung die häuslichen Tugenden gestärkt würden, änderten sie gar nichts, so Godin, an den Lebensbedingungen der Arbeiter: Die Beschwerlichkeit des Familienlebens bleibe erhalten und der Lokalbesuch die einzige Abwechslung im Leben des Arbeiters. Godin lehnte Siedlungen wie in Mülhausen auch deshalb ab, weil sie mit staatlichen Zuschüssen (hier: 200000 Francs) gefördert wurden und so der Staat Einfluss nehmen könne. Eine „wahre“ Reform der Architektur, eine „soziale Architektur“ („l’architecture sociale“) aber könne nur unter der Bedingung der Freiheit und Unabhängigkeit gedeihen.

 

Die Wohngebäude für die Beschäftigten der Fabrik in Guise entstehen von 1859 bis 1885 am linken Ufer der Oise und die Inspiration durch die „Phalangstère“ Fouriers ist unverkennbar.  Allerdings ist Godin mit seiner Familistère – wie auch der Name es schon benennt – den Kollektivwohnungsvorstellungen von Fourier nur zum Teil gefolgt, wenngleich er sich für die Errichtung des „Sozialpalastes“ des (verkleinerten) Grundrisses der „Phalanstère“ bediente. Die Familie bleibt die soziale Grundeinheit des Wohnmodells.

Im Mittelpunkt dieses Modells steht das „Palais social“, der „Sozialpalast“. Dieses Zentralgebäude hat eine Länge von 65 und eine Tiefe von 40 Metern, die gesamte Vorderfront der Anlage mit den Flügelbauten erstreckt sich über 180 Meter mit „1200 steuerpflichtigen Thüren und Fenstern“. Ebenso wie bei den Flügelbauten dominiert diesen Zentralpavillon ein überdachter Innenhof mit der imposanten Größe von fast 1000 Quadratmetern. Rund um diesen Innenhof mit seinem Glasdach führen bei insgesamt dreistöckiger Bauweise auf drei Etagen Galerien zu den einzelnen Wohnungen – die „galeries internes“ der Phalangstère. Erreichbar sind die Galerien über vier Treppenaufgänge in den einzelnen Ecken des rechteckigen Gebäudes. In diesen Ecken befinden sich auch die Wasserleitungen und die Aborte sowie eine Art Müllschlucker: Durch eine Klappe in den Kehrrichtkammern fällt der Abfall hinab in dafür vorgesehene Behälter.

Die Wohnungen selbst sind sowohl auf der Hofinnenseite wie auch auf der Gebäudeaußenseite mit Fenstern versehen, die Größe der Fenster nimmt mit zunehmenden Lichteinfall von unten nach oben ab. Die insgesamt vier so gestalteten Wohngebäude (ein Wohnblock ohne überdachten Innenhof wurde 1885 zuletzt fertiggestellt) enthielten 475 Zwei- und Dreizimmerwohnungen für 1600 Personen – das von Fourier gedachte Idealmaß der Bewohnerzahl einer „Phalange“. Godin selbst wohnte im Haupttrakt. Die einzelnen Wohnungen der Familistère bestehen aus einer Küche und zwei oder drei Zimmern, teilweise konnten zwei Wohnungen zu einer größeren zusammengelegt werden.

Godin gibt in seinen „Solutions Sociales“ ein Größen- und Mietpreisbeispiel. So kostet eine Wohnung mit Diele, zwei Zimmern (von ca. je 17 qm Größe) und einem Abstellraum mit einer Gesamtwohnfläche von 37 qm im ersten Stockwerk 10,75 Francs. Die darunter bzw. darüber liegenden Wohnungen sind günstiger, sie kosten im zweiten Stockwerk 9,60 Francs und auf der dritten Etage gar nur 8,40 Francs. Geht man von einem durchschnittlichen Tagesverdienst eines Arbeiters von 5,5 Francs aus (um 1880), dann waren für die Miete ca. zwei Arbeitstage aufzubringen. Zum Vergleich: Für Deutschland hieß es 1886, der Arbeiter müsse „zwischen 15 und 30 Prozent seines Einkommens, vielfach ein Viertel und mehr seiner Gesamteinnahmen, für schlechte, enge und ungesunde Wohnungen ausgeben“. Dem entspräche bei einer Sechs-Tage-Woche ca. 5 Arbeitstage für die Miete. Damit scheint das Wohnen in der Familistère vergleichsweise preiswert gewesen zu sein, was auch eine Besucherin noch für die 1950er Jahre beschreibt: „Die Miete ist äußerst niedrig gehalten und reicht nach unserer Meinung kaum zur Kostendeckung aus. So werden für die von der Verfasserin besichtigten  Wohnungen, bestehend aus drei Zimmern und einer Küche, nur monatlich 1761 frs bezahlt.“[1] 

 

Halböffentliche Räume

 

Unter kommunikativen Aspekten stellt die „Familistère“ eine interessante Mischung aus öffentlichem, halböffentlichem und privatem Raum, aus kollektivem Wohnen und familiärer Intimität dar. Die überdachten Innenhöfe sind ein Raum des Kontaktes und der Kommunikation, aber auch ein Raum der gegenseitigen Überwachung. Wer aus der Intimität und Privatheit seiner Wohnung tritt, steht zunächst in einem halböffentlichen Raum. Halböffentlich, da dieser Raum innerhalb der Zone der näheren Nachbarschaft liegt und nicht die Anonymität eines unbeschränkt zugänglichen – eben öffentlichen – Raumes aufweist. Von den Galerien aus ist sowohl der Blick auf das „soziale Ganze“ möglich, wie man auch selbst Gegenstand der Blicke anderer ist. Dieser halböffentliche Raum gibt Gelegenheit für eine zwanglose Begegnung, für ein informelles Gespräch im Vorübergehen, es ist ein Raum für den Austausch mit den Mitbewohnern: Die Galerien ermöglichten den häufigen Kontakt mit den Nachbarn, wie sich René Rabaux, Direktor der Assoziation von 1933 bis 1954, erinnerte.

Die gesamte Konstruktion der Gebäude ist auf Kommunikation und Austausch hin angelegt – eben auf die Konstitution einer „Assoziation“ und steht so in krassem Gegensatz zu den auf Isolierung und Fragmentierung der Arbeiterfamilien angelegten Werkssiedlungen wie etwa bei Krupp. Der durch sein Glasdach vom Wetter unabhängige Innenhof bietet die sozial-kommunikative Möglichkeit der Versammlung – hier wurden auch die ersten 1.Mai-Feiern und  jeweils am ersten Septembersonntag das „Fest des Kindes“ abgehalten.

 

Allerdings profitierte Godin in ökonomischer Hinsicht ebenso wie die Erbauer anderer Werkssiedlungen von der Ansiedlung einer Stammbelegschaft in Fabriknähe, musste doch zu Beginn der Produktion in Guise auf Arbeitskräfte aus den umliegenden Dörfern zurückgegriffen werden, die oft einen stundenlangen Weg bis zur Fabrik zurücklegten. Der prosperierende Betrieb bedurfte ständig neuer Arbeiter, die in der Regel erst angelernt werden mussten und die Bindung von ausgebildeten Arbeitern an die Ofenfabrik durch die nahen Werkswohnungen stellte einen für die Betriebsführung nicht zu unterschätzenden Vorteil dar. Denn die Fluktuation unter den Arbeitern war zu dieser Zeit erheblich und die Arbeitsdisziplin mäßig. Diese unstete Lebensführung und Arbeitsweise der proletarischen Schichten in Frankreich des 19. Jahrhunderts schildert der französische Historiker Caron: „Bis in die achtziger Jahre war diese Mobilität ein Synonym für Instabilität, denn die Arbeiter wechselten je nach Angebot und Nachfrage ihre jeweilige Beschäftigung.“[2]

 

Der „Palast-Idee“ gemäß ergänzte ein Theater den öffentlichen Raum der Familistère. Von Godin auf einer zentralen Achse konstruiert, wurde das Theater 1869 gegenüber dem Hauptpavillon errichtet, rechts und links von zwei Schulgebäuden flankiert. Als ein Tempel der Aufklärung und der Erziehung, als ein „Temple de la Religion de la Vie et du Travail“, also einer „Religion des Lebens und der Arbeit“, nahm das Theater den Platz einer Kirche ein. Der Theaterraum fasste bis zu 1000 Personen  und diente als Versammlungsort der 1880 gegründeten Genossenschaft.

Ebenso wie das „gute“ Wohnen oder die soziale Absicherung durch Krankenkassen sah Godin in der Erziehung und Schulung der Kinder und Jugendlichen einen wesentlichen Bestandteil seiner „sozialen Lösungen“. Die von ihm so genannte „vollständige Erziehung“ („Education intégrale“) umfasste mehrere Betreuungsstufen: Die Kinderkrippe für Säuglinge („Nourricerie“), den Kindergarten für Kinder bis zum 4. Lebensjahr („Pouponnat“), die Vorschule für die 4- bis  6-Jährigen („Bambinat“), die Petite und die Seconde École für Schüler von 6 bis 10 Jahren. In der Première École lernten die 10-  bis 13-Jährigen und sogenannte „höhere Kurse“ waren für besonders begabte Schüler gedacht. Ein kleiner Teil des Unternehmensgewinns war dafür vorgesehen, diese begabten Kinder auf Höhere Schulen und Universitäten zu schicken.

 Der Besuch dieser Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen war für die Familistère-Bewohner kostenlos, die notwendigen Lehrkräfte und das sonstige Personal wurden von der Assoziation bezahlt. Welchen Wert Godin und die Assoziation der Erziehung beimaßen, lässt sich auch an dem dafür zur Verfügung stehenden Etat ablesen: 1889 betrug der Kostenaufwand für 400 Schüler und 16 Lehrer in der Familistère 33000 Francs. Die Stadt Guise gab für ihre 800 Schulkinder hingegen lediglich 13500 Francs aus.

Die Anlage der „Familistère“ umfasste auch mehrere Wirtschaftsgebäude ‑ „les économats“ ‑, in denen ab 1859 ein Restaurant, eine Kollektivküche, eine Bäckerei, eine Metzgerei, ein Milchladen und andere Genossenschaftsläden untergebracht waren. Mit diesen Einrichtungen sollte der Handel als Bindeglied zwischen Produzent und Konsument ausgeschlossen und so die Preise niedrig gehalten werden. Diese Läden hatten, wie noch aus den 1950er Jahren berichtet wird, die Rechtsform einer Konsumgenossenschaft. Man konnte hier Lebensmittel, aber auch Textilien oder Schuhe einkaufen – zu Preisen, die denen in der Stadt Guise glichen. Allerdings erhielten die Kunden in den Konsumläden eine Art Rückvergütung, die in den besten Jahren 15 Prozent betrug. Zu diesen Wirtschaftsgebäuden kamen 1869 am Ufer des Flüsschens Oise eine Badeanstalt und eine Wäscherei hinzu sowie dahinter auf einer Anhöhe zwischen Wohngebäuden und Fabrik ein Garten, der sowohl der Erbauung als auch der Erziehung diente.

 

Huldigung der Arbeit

 

Hatte Godin auch mit der damaligen Arbeiterbewegung politisch wenig gemein, so teilt er doch deren Huldigung an die Arbeit. Der wahre Wert der Handarbeit müsse endlich gesehen und gewürdigt werden, der Arbeiter selbst werde mit der Wertschätzung der Arbeit erhöht und könne damit aus den dunklen Tiefen aufsteigen, in die ihn das Bürgertum geworfen habe, und zum Lichte drängen. Die Arbeit, so Godin, werde in Zukunft nicht lediglich nur ein einfaches Mittel sein um körperliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern vielmehr ein weites Feld, auf dem sich das „große Konzert des Geistes, der Herzen und Seelen“ abspiele, um die Freiheit, die Brüderlichkeit und die Gerechtigkeit auf Erden zu erobern.

 

Die Arbeit auf dem real existierenden Felde der Ofenfabrik dauerte um 1880 für die Arbeiter zehn Stunden. Als Ausgleich, als Erbauung und Belehrung  wurden in der Familistère diverse kulturelle Veranstaltungen gepflegt, von Theatervorführungen über Vorträge – Godin bemühte sich eifrig, den Arbeitern seine Ideen zu erläutern ‑ bis hin zu öffentlichen Musikdarbietungen. So verfügte die Assoziation über ein eigenes Orchester, das im Garten hinter dem Sozialpalast Platzkonzerte darbot, es gab verschiedene Freizeitgruppen wie die Bogenschützen, einen Turner- und einen Fechtverein. Gesellschaftliche Höhepunkte des Jahres aber waren unbestritten das Fest der Arbeit am 1. Mai und das Fest der Kinder am ersten Septembersonntag im Innenhof des Zentralpavillons und beide hatten, wenn auch diskret, die Huldigung der Arbeit zum Thema. Dazu wurden die Galerien mit Lampions, Luftballons und Blumengebinden festlich geschmückt, das Programm bestand aus Musikvorführungen, Ansprachen und Preisverleihungen. Die ganze Bevölkerung der Siedlung, nebst vielen Gästen, besonders Bewohnern der Stadt Guise – zusammen oft einige Tausend Menschen – erschienen im Feststaat. Diese Feste wurden mindestens bis in die 1950er Jahre hinein veranstaltet und sind Teil einer versuchten Konstitution von Arbeiterkultur bzw. präziser: einer „Kultur der Arbeit“. Während aber z.B. in der Sowjetunion der 1920er Jahre im Rahmen der Proletkult-Bewegung der Versuch einer neuen Ästhetik gemacht wurde – etwa mit der Aufführung von Konzerten für Fabriksirenen – wurzelten die Familistèrefeste ästhetisch in der bürgerlichen Kultur.

 

Eines der politisch-sozialen Ziele von Godin bestand in der Emanzipation der Frauen (als Mitglieder der Genossenschaft hatten sie Stimmrecht in der Generalversammlung und in den Selbstverwaltungsgremien, zur damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit) und dies äußerte sich auch im Alltag der Familistère. Die Organisation der Familistère als Großhaushalt sollte die Frauen von häuslicher Arbeit entlasten, von der Kinderbetreuung über die Einkaufsmöglichkeiten in den „ecomats“ bis hin zu den Vorzügen des zentralen Waschhauses. So befand sich bis zum 1. Weltkrieg das „Kleinkinderhaus“ – die Krippe und das Säuglingsheim – direkt hinter dem Zentralpavillon. Die Mütter konnten dort ihre Kleinkinder beaufsichtigen lassen und während der betrieblichen Arbeitszeit stillen, bis 1876 blieben viele Kinder auch des Nachts über im Kinderhaus. Die Versorgung mit den Dingen des täglichen Bedarfs war (neben den Läden in den außenliegenden Wirtschaftsgebäuden) auch durch hausinterne Läden im Erdgeschoß des Zentralpavillons gesichert, dort konnten die Bewohner Backwaren, Brennmaterial, Getränke oder Fleisch einkaufen, ohne die Großwohnanlage verlassen zu müssen. Ein weiterer Bestandteil der großbetrieblichen Organisation der Familistère war die zentrale Wäscherei am Flussufer. Dort befand sich eine große Menge an Waschtrögen mit Heißwasserzuleitung, das heiße Wasser kam direkt aus der Fabrik. Baden konnten die Sozialpalast-Bewohner entweder in den Baderäumen im Erdgeschoss der Familistére oder in den Badekabinen neben der Wäscherei. Dort stand auch ein 50 Quadratmeter großes Schwimmbad zur Verfügung, dessen Holzboden für die Kinder angehoben werden konnte.

In der ursprünglichen Konzeption der Großwohnanlage war gleichfalls eine zentrale Küche vorgesehen und aus diesem Grunde wurden für die älteren Wohnungen keine Küchen eingeplant. Die Arbeiter und ihre Familien sollten sich die zubereiteten Speisen in der Zentralküche abholen, um dann im Familienkreise zu essen. Diese Idee erwies sich aber als Fehlschlag, die einzelnen Haushalte wollten nach ihrem eigenen Geschmack kochen, zudem erwies es sich als unpraktisch, die Speisen von der Küche außerhalb der Wohngebäude in die einzelnen Wohnungen hinaufzutragen.

Zum Angebot der Großwohnanlage gehörten auch medizinische Dienstleistungen, in der Familistère gab es ein spezielles Krankenzimmer und eine Apotheke. Zwei angestellte Ärzte und eine Hebamme kümmerten sich um die Gesundheit der Bewohner. Für die Feuersicherheit sorgte ein ausgebildetes Feuerwehrcorps mit 40 Feuerwehrleuten und für die Sicherheit in der Nacht  ein Nachtwächterdienst, der einen stündlichen Rundgang absolvierte. Ansonsten bestand in der Familistère kein spezieller Ordnungs- oder Sicherheitsdienst, die Disziplin in der Großwohnanlage wurde vor allem durch den moralischen Appell und den moralischen Druck der gegenseitigen Überwachung aufrechterhalten, lag doch die Lebensweise eines jeden Bewohners für alle anderen offen zutage. Als Sanktion genügte oft nur ein Anschlag am schwarzen Brett, allerdings ohne Namensnennung.

 

Von Seiten der Stadt Guise und deren Honoratioren stieß das soziale Experiment Godins auf Skepsis bis Ablehnung. Traditionell-christliche Kreise sorgten sich um die Moral in den Sozialpalästen, in denen einige Frauen kurze Haare trugen und die freie Liebe praktizierten. Auch die Koeduktation in den Schulen war den Konservativen ein Dorn im Auge. Durch die Einrichtung der Familistère-Läden fürchteten die Einzelhändler in der Stadt um ihren Umsatz und die Vermieter sahen mit Unbehagen die niedrigen Mieten in den Sozialpalästen. Ein Beispiel für den Boykott der Familistère durch die Stadtverwaltung ist das Verbot einer Tanzveranstaltung im Zentralpavillon am 28. Februar 1865.

 

Nach dem Tode von Godin im Jahre 1888 führte dessen zweite Ehefrau, Marie Godin-Moret, für einige Monate als Generaldirektorin die Geschäfte der Assoziation, danach stand François Dequenne bis 1897 an der Spitze des Unternehmens, gefolgt von Louis-Victor Colin, der die Firma 35 Jahre lang (bis 1932) leitete. Das Unternehmen blieb wirtschaftlich weiter erfolgreich, eine Reklametafel von 1913 warb für die Godin-Fabrik als der Nummer Eins am französischen Ofen-Markt. Ein erheblicher Rückschlag erfolgte allerdings im 1. Weltkrieg. Der linke, an der Oise gelegene Flügel der Familistère (wie auch der Kindergarten) wurde durch Bomben zerstört und erst 1923 wieder aufgebaut. Das Theater und die Schulen wurden von den deutschen Besatzungstruppen mit Stacheldraht eingezäunt und als Gefangenenlager benutzt. Auch wurden mehrere Gebäude der Fabrik, darunter die Formgießerei, zerstört. Das Ende der Assoziation schien gekommen, doch ein Jahr später konnte die Produktion wieder aufgenommen werden.

Ende der 1930er Jahre, als ein großer Streik die Fabrik erschütterte, hatte die Firma mit ihren Öfen und Küchenherden einen Marktanteil von 45 % in Frankreich. Als Direktor firmierte seit 1933 Renè Rabaux (bis 1954), ein Bewohner der Familistère in der 4. Generation. Das Titelblatt des Firmenkatalogs von 1938 zeigte die Statue des Firmengründers vor einer Fotografie der Familistère und einer schematischen Ansicht der Fabrik mit rauchenden Schloten. Diese Zusammenstellung der drei Elemente drückt das damalige Selbstverständnis des Unternehmens aus: Man verfügte über beträchtliche Wirtschaftskraft, belebt durch die moralische Autorität des Gründers und gerechtfertigt durch sozialen Fortschritt. Im 2. Weltkrieg wurde die Produktion in Guise zeitweilig eingestellt und das Zweigwerk in Belgien durch Bomben beschädigt.

Nach dem 2. Weltkrieg schrumpfte durch Rationalisierungsmaßnahmen die Belegschaft: Hatte das Unternehmen 1929 noch 2500 Mitarbeiter beschäftigt, waren es Ende der 1950er Jahre nur noch 1500 Mitarbeiter. Das einst marktbeherrschende Unternehmen hatte zunehmend mit der Konkurrenz zu kämpfen, seine Marktstellung mit guten, aber auch teuren Produkten wurde nach und nach vor allem durch italienische Waren unterspült. Gleichzeitig schrumpfte die Nachfrage nach Kohleöfen.

Innerhalb der Assoziation begann der einstige Genossenschafts-Gedanke zu verblassen. Manche Wohnungen in den Sozialpalästen standen leer, die Wohnstandards mit ihren Zimmergrößen entsprachen nicht mehr den Vorstellungen der nachwachsenden Generation. Die Volksschule wurde, da die Zahl der Schulkinder erheblich gesunken war, 1957 als Schenkung dem Staat übergeben und schließlich wegen Kindermangels geschlossen. Das Gemeinschaftsleben mit den verschiedenen Freizeitgruppen kam zum Erliegen, das Fernsehen ‑ dessen Antennen auf dem Dach der Familistère in den Himmel wuchsen ‑ und die neue Mobilität durch das Auto forderten ihren Tribut.

In den 1960er Jahren verschlechterte sich die finanzielle Situation der Gesellschaft rapide, bereits 1966 wurde die Auflösung der Assoziation diskutiert. Von 1965 – dem letzten „großen“ Jahr – bis 1970 sank der Umsatz um die Hälfte. 1968 wies die Bilanz einen Verlust von rund 6 Millionen Francs auf, die Gesellschaft war zahlungsunfähig. Die Umwandlung der Genossenschaft in eine Aktiengesellschaft („s.a.“) vom 1.6. 1968 brachte das Ende des paternalistisch-utopischen Projekts von Guise. Aus den Associés wurden einfache Aktionäre. „Godin hat seine Seele verkauft um seine Haut zu retten“, schrieb damals eine Wirtschaftszeitschrift. Das Handelsgericht Lille gewährte schließlich einen Vollstreckungsaufschub unter der Bedingung, dass durch einen Sanierungsplan das Unternehmen innerhalb von drei Jahren seinen Verpflichtungen nachkomme, so konnte der Konkurs noch abgewendet werden. Der Küchengerätehersteller Le Creuset übernahm schließlich Verpflichtungen und Fabrik. In der Folge wurde ein Zweigwerk in Belgien verkauft, die Wohnungen in der Familistère wurden privatisiert und in Eigentumswohnungen umgewandelt. Garten, Theater und einige Nebengebäude gingen aufgrund mangelnden Verwendungszweckes an die Kommune. Die Produktion in der Fabrik wurde zu größten Teilen auf die Fabrikate von Le Creuset umgestellt.

Die Wohnanlage fiel in einen Art unbehelligten Dornröschenschlaf und die soziale Utopie Godins fiel – abgesehen von einem Fachpublikum wie z.B. Architekturstudenten – nahezu für den Rest des Jahrhunderts dem Vergessen anheim.

 

Ein „Historisches Monument“

 

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts existieren die Fabrik und die Familistère in Guise nach 120 Jahren noch als zusammenhängend erlebbares Ensemble von Gebäuden. Vom Hauptplatz mit der Statue Godins, hinter der sich die Fassade des Sozialpalastes erhebt, geht der Blick rechts hinauf zu den Toren der Fabrik, die auch heute noch den Namen Godin ‑  in Schwarz auf dem Hintergrund einer roten Flamme ‑ trägt. Der historische Zusammenhang zwischen Wohnen und Arbeiten, das Leben in der Nähe der Fabrik, erschließt sich durch den Gang über die Brücke der Oise und am ehemaligen Bad vorbei – es sind nur wenige Schritte nötig. Doch der innere Zusammenhang zwischen den beiden Orten, die soziale Utopie, ist seit über 35 Jahren nicht mehr existent.

Seit dieser Zeit (1968) ist die Fabrik ein von der Familistère unabhängiger „normaler“ Wirtschaftsbetrieb, wenn auch mit ungewöhnlicher Vergangenheit. Zählte in den 1960er Jahren die Belegschaft noch mehr als 1000 Mitarbeiter, so arbeiten heute noch 286 Angestellte und Arbeiter in den Fabrikhallen. Das Unternehmen ist in Privatbesitz und gehört nun zu der französischen Gruppe Cheminées Philippe SA. Man fertigt mit 450 Grundmodellen rund 70000 Geräte pro Jahr,  darunter die „klassischen“ gusseisernen Öfen wie den „petit Godin“, aber auch moderne Gasöfen für den Privathaushalt und die Gastronomie, Kaminöfen mit Sichtfenstern, gusseiserne Bistro-Tischchen und Gartenbänke.

Die Ofenfabrik Godin ist trotz der im Laufe der Jahrzehnte sehr geschrumpften Zahl seiner Mitarbeiter immer noch der größte Arbeitgeber der Stadt. „Wenn es Godin gut geht, geht es auch der Stadt gut“, bringt Bürgermeister Daniel Cuvalier die traditionelle Wechselbeziehung auf den Punkt, denn die Arbeitslosigkeit beträgt in Guise wie in der Region ca. 10 Prozent. Nachdem das soziale Experiment des Jean-Baptiste André Godin auch in der näheren Umgebung nahezu in Vergessenheit geraten war, beschäftigt man sich nunmehr seit etwa zehn Jahren wieder mit der Familistère. Mit einem Projekt namens „Utopia“, das in einer gemeinsamen Trägerschaft („syndicat mixte“) steht, will man der historischen sozialpolitischen und architektonischen Bedeutung der Familistère gerecht werden. Kamen 1999 rund 4000 Touristen nach Guise, so hofft man durch „Utopia“ auf steigende Besucherzahlen.

 

Eine neue Wertschätzung der Gebäude der Familistère und der Fabrik erfolgte 1991, als das Ensemble zu einem „Historischen Monument“ erklärt wurde. 1996 gab die Stadt Guise in Zusammenarbeit mit dem französischen Kulturministerium und der Regionalverwaltung der Picardie eine Studie in Auftrag, die die großen Linien des Projektes „Utopia“ mit seinen Inhalten, Zielsetzungen und finanziellem Aufwand zeichnen sollte. Seit 1998 ist das Departement Aisne der Motor des Projektes, an dem die Stadt Guise, die Region, das Kulturministerium und die Europäische Union beteiligt sind. Weitere Akteure sind die Fabrik Godin S.A., die ihr Unternehmensmuseum mit einer Ausstellung historischer Öfen einbringt sowie die „Assoziation Pour la Fondation Godin“, die Führungen durch die Familistère anbietet. Das Projekt umfasst zwei Phasen: Die erste Phase war von 2000 bis 2003/4 konzipiert und es standen 6 Millionen € zur Verfügung, die zweite Phase ist bis zum Jahre 2006 konzipiert und hier steht ein Finanzrahmen von 7 Millionen €  bereit.

 

Inhalt des Projektes ist es, der Familistère in ihrem heutigen Zustand eine kulturelle, touristische, wirtschaftliche und soziale Dimension zu geben. Das Projekt wird als ein politisches Projekt verstanden, das die Möglichkeit eröffnet, sich mit den Werten einer Gemeinschaft auseinander zu setzen, die  sich der Zukunft verpflichtet fühlte. „Utopia“ soll damit auch das Nachdenken über die Gesellschaft und ihre verschiedenen Zukunftsentwürfe anregen und über die Geschichte des Experiments von Godin, über soziale Utopien der Vergangenheit und Gegenwart informieren.

 

               



[1] Kuhlmeyer, Elfriede: Von der Gewinnbeteiligung zum gemeinsamen Eigentum und zur gemeinsamen Verantwortung. Die Einflüsse der utopischen Sozialisten auf die Unternehmens-Reformen in Frankreich. Köln 1958 S. 134.

[2] Caron, François: Frankreich im Zeitalter des Imperialismus 1851 - 1918. Stuttgart 1991 S. 87.