Boomtown

Jungle World 2.10.01:

Die Hungrigen und die Satten

In München spaltet sich die Gesellschaft. Die Wirtschaft der Stadt boomt, doch inmitten dieser Wohlstandszone mehren sich soziale Ungleichheiten. Die  Miete trennt Modernisierungsgewinner und -verlierer, Reich und Arm.

Von Rudolf Stumberger

Der Mann, der da am U-Bahnausgang Marienplatz steht, ist kein Gewinner. Die  abgetretenen Schuhe, die verwahrlosten Haare, das von Alkohol aufgedunsene Gesicht - er entspricht allen Klischees eines Obdachlosen. In der Hand hält er  eine Zeitschrift zum Verkauf. Biss nennt sich diese Publikation für “Bürger in sozialen Schwierigkeiten”, eine Obdachlosenzeitung, die ihm pro verkauftem Exemplar etwas mehr als eine Mark bringt.

Nur ein paar Meter entfernt hängt an einem Kiosk eine andere Publikation,  deren Titel identisch klingt: Bizz. Doch dahinter verbirgt sich ein  Hochglanzmagazin für die Gewinner. Es geht um Karriere, Geld und schöne Körper.  Zwischen Biss und Bizz liegen Welten und sie symbolisieren gleichsam den  sozialen Riss, der die süddeutsche Metropole unterschwellig immer mehr zu spalten beginnt.

München ist eine Boomtown, eine Stadt der Medien, der Kommunikationsbranchen,  der Werbung und der innovativen Net-Firmen. Unzählige Baukräne stechen in den  weißblauen Himmel und tragen dazu bei, die gläsernen High-Tech-Tempel  hochzuziehen, die mit ihren spiegelnden Fassaden und fragilen Konstruktionen die Modernität des Internet-Zeitalters abbilden sollen.

Die Zahl dieser Business-Paläste hat sich in den vergangenen fünf Jahren rasant vermehrt, das jüngste Beispiel ist ein neuer Büroblock an der Stadtautobahn Mittlerer Ring. In dieser futuristisch anmutenden Architektur  residieren Telefongesellschaften, Internetprovider und Versicherungen, und sie  haben hier - am Mittleren Ring/Ecke Arnulfstraße - die Unternehmen der Old  Economy verdrängt, früher produzierte an diesem Standort eine Fahrzeug-Maschinenfabrik.

Die Menschen, die in dieser Architektur arbeiten, sind oft sehr jung, sehr motiviert, sehr gut ausgebildet und auch sehr gut bezahlt. So wie Lydia Z. Mit  ihren 27 Jahren verdient sie 6 000 Mark brutto und sie arbeitet viel dafür. Die Werbeagentur, in der sie oft bis abends um acht Uhr sitzt, ist zu einer Art Familie geworden, inklusive der gemeinsamen Mitarbeiterwoche in St. Moritz, zu der der Firmenchef einlädt. Er ist übrigens auch der einzige mit Familie, die anderen Mitarbeiter sind Singles - wie Lydia und mehr als 50 Prozent der Mieter in München.

München ist eine Boomtown und eine Stadt der Sieger. Irgendwo muss der Reichtum der Bundesrepublik ja erwirtschaftet werden und sich niederlassen. Wenn 42 Prozent aller Vermögenswerte in Deutschland auf zehn Prozent der Haushalte verteilt sind, dann steht reichlich Kleingeld zur Verfügung. Mindestens 5 000  Einkommensmillionäre leben an der Isar, und sie sind wohl auch die Klientel der  Bauträgergesellschaften, die ihren Neubauten so treffende Namen wie »Siegesbogen« geben.

Denn wer hier wohnt und sich eine 112-Quadratmeter-Wohnung zum Kaufpreis von  1,3 Millionen Mark leisten kann, gehört zu den Siegern und den Satten in dieser Stadt. »Wer Alt-Schwabing sein Zuhause nennen darf, zählt zu den Verwöhnten  Münchens«, folgert richtig der Bauträger in seiner Annonce.

Aber es muss nicht »Alt-Schwabing« sein, das ehemalige Künstlerviertel Münchens, von dem in den sechziger Jahren die ersten Studentenkrawalle ausgingen. Auch Bogenhausen und Nymphenburg sind bevorzugte Wohngegenden für die Betuchten, die sich hier schon mal eine Villa für neun Millionen Mark oder ein Reihenhaus für zwei Millionen Mark leisten (die Spitzenreiter am Münchner Immobilienmarkt im Jahr 2000).

München ist eine Boomtown, und wer in diesem Boom finanziell nicht mithalten  kann, tut sich schwer. Die Wohnungsnot grassiert in dieser Stadt wie eine Seuche  und stellt für den Normalverdiener ein enormes Problem dar. Einige versuchen es auf die emotionale Tour: »Ehepaar m. süßer kl. Tochter sucht Wunderwhg. f. 1  200.- in Mü.« Eine preisgünstige Wohnung zu finden, grenzt mittlerweile tatsächlich an ein Wunder, die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen ist gang und gäbe.

Ein Beispiel für die Vernichtung preisgünstigen Wohnraumes ist etwa ein  Gebäude in der Sandstraße nahe dem Hauptbahnhof. Vormals lag dieses Quartier im  Windschatten der Modernisierung. Hier wohnten die Menschen zwischen Brauereien  und Firmengeländen in relativ preisgünstigen Wohnungen. Marko K. zum Beispiel zahlte für seine Zweizimmerwohnung nur 500 Mark Miete.

Der 74jährige Renter wohnte 20 Jahre lang in dem Vorkriegsbau, der - zusammen mit weiteren 80 Häusern der Stadt, so heißt es - einem knapp 90jährigen Hausbesitzer gehörte. Als er starb, verkaufte die Erbengemeinschaft das Gebäude  an einen Bauträger. Zunächst sollten die Wohnungen saniert werden, dann wurden  die Fensterstöcke herausgerissen, am Schluss brannte das Haus aus ungeklärten  Ursachen ab. Marko K. wohnte bis zum Ende als letzter Mieter in der Hausruine,  seine neue Bleibe - eine Einzimmerwohnung - liegt weit draußen vor den Toren der  Stadt. Die Bautafel vor den ausgebrannten Fensterhöhlen zeigt, welche Art von Mieter hier künftig wohnen werden. Das Haus selbst ist mittlerweile abgerissen.

Wo immer mehr Mietshäuser in Eigentumswohnungen aufgeteilt werden und so der Wohnungsmarkt kapitalintensiver wird, geraten immer mehr Menschen in den  Schatten des Wirtschaftsbooms an der Isar. Seit den achtziger Jahren wächst die  Zahl der Armen in der Stadt beständig. Wurden 1986 noch knapp über 80 000 Menschen gezählt, die am Rande des Existenzminimums lebten, so hat sich die Zahl  1995 auf 140 000 erhöht und ist mittlerweile auf rund 160 000 angestiegen. Damit  gilt jeder achte Münchner als »arm«. Für den neuen Armutsbericht 2002 rechnet  man nur mit geringfügigen Veränderungen.

Die Situation auf dem Wohnungsmarkt hat sich dramatisch zugespitzt, die Zahl der Menschen ohne Obdach steigt. Seit dem Januar dieses Jahres werden pro Monat 384 Menschen zusätzlich als wohnungslos gemeldet, noch vor einem Jahr waren es 100 weniger. Die städtischen Unterkünfte und Wohnheime sind voller Obdachloser, die Vermittlung von obdachlosen Wohnungssuchenden auf dem freien Wohnungsmarkt sank im Laufe des vergangenen Jahres um fast die Hälfte (44 Prozent). Es droht der Unterbringungsnotstand. In einem öffentlichen Appell bittet die bayerische Landeshauptstadt die Wohnungsgenossenschaften und die Baugesellschaften  mittlerweile, dem Sozialreferat Wohnungen zur Verfügung zu stellen.

Die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft, vor der auch Münchens  Sozialreferent Friedrich Graffe jüngst warnte, ist in einer der wohlhabendsten Städte Deutschlands längst bittere Wirklichkeit geworden. Sie besteht zwischen den Kapital- und High-Tech-Jobbesitzern einerseits und den »normalen«  Lohnabhängigen andererseits.

Für Ernst M. zum Beispiel war die soziale Schmerzgrenze schon fast erreicht.  Der 39jährige Angestellte im Strafvollzug zahlte für seine Dreizimmerwohnung  zwar »nur« knapp 1 600 Mark, doch mit zwei Kindern reichte das Haushaltsbudget  hinten und vorne nicht. Sein Nettoverdienst lag nur wenige Mark über dem Sozialhilfesatz, auf den seine Familie Anspruch hätte. Radikal verändert hat  sich die Situation erst mit einer Erbschaft seiner Frau, das Ehepaar konnte sich eine Eigentumswohnung leisten. Der Wegfall der monatlichen Mietbelastung machte  sich deutlich im Budget bemerkbar.

Für den, der oft mehr als die Hälfte seines Einkommens in die Miete stecken  muss, ist München hingegen nahe am sozialen Alptraum. Gäbe es nicht die  preisgünstigen Wohnungen der Baugenossenschaften und des sozialen Wohnungsbaus, viele Münchner könnten sich ihre eigene Stadt nicht mehr leisten. Ohnehin sind die Angehörigen der alten Arbeiter- und neuen Dienstleisterklassen schon meist an den Stadtrand in die Neubausiedlungen aus den sechziger und siebziger Jahren  verbannt. Hier wohnen diejenigen, die den High-Tech-Angestellten die Firmenklos putzen, ihnen die Pizzen bringen und die Socken im Kaufhaus verkaufen.

Beispiel Hasenbergl. Die Sozialwohnungssiedlung aus den sechziger Jahren grenzt im Norden der Stadt an Wälder und Äcker und sie ist auch der bevorzugte Ort, wenn Journalisten sich auf die Suche nach dem »Sozialen« begeben. Hier wohnen Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose, zwar nicht nur, aber doch deutlich über dem statistischen Durchschnitt. Der Anteil von Ausländern und Aussiedlern  ist hoch und das gilt auch für den Anteil von Jugendlichen und Kindern.

Das Hasenbergl ist ein so genanntes “Problemviertel«, das nun im Rahmen des  Bundesprogramms »Soziale Stadt« saniert werden soll. Wie in den anderen  Neubauvierteln München-Neuperlach und München-Neuaubing dominieren hier  Sozialwohnungen in monotoner Blockarchitektur, es fehlt diesen Vierteln eine Infrastruktur aus Freibädern, Kneipen oder Kinos. Als reine Schlafstädte für Arbeiter und Angestellte konzipiert, fehlt es ihnen auch völlig an jenem Ambiente, das die Modernisierungsgewinner in den bunten und lebendigen Straßen  der Innenstadt suchen.

In diesen Sozialvierteln wohnt auch die Klientel für die »Münchner Tafel«, eine ehrenamtliche Organisation, die wie in vielen anderen Städten kostenlose Lebensmittel an Bedürftige ausgibt.

Donnerstagnachmittag, 14 Uhr im Hof der evangelischen Dankeskirche im  Münchner Norden: Gut zwei Dutzend Menschen stehen vor dem Tor, viele ältere Frauen mit Einkaufstaschen auf Rädern, Mütter mit Kinderwagen, Männer mit Plastiktüten. Später werden sie mit frischem Obst und Gemüse, Brot und Milch,  Wurst und Käse wieder nach Hause gehen. Rund 8 000 Menschen betreut die »Tafel«,  sie verteilt ihre Lebensmittel in Obdachlosenwohnheimen und auf der Straße:  Armenspeisung im 21. Jahrhundert.

So teilt sich München über den zu zahlenden Mietpreis zunehmend in Viertel  der Hungrigen und der Satten auf. Die Bevölkerung spaltet sich in die  Normalverdiener, die Verlierer, die Sozialhilfeempfänger und die Arbeitslosen auf der einen Seite und die jungen gut Verdienenden sowie die Kapital- und Wohneigentumsbesitzer andererseits. Im »Goldrauschklima der Boomtown« (so die Münchner Abendzeitung) werfen die neuen Glasfassaden auch neue Schatten auf  jenen Teil der Einwohner, die - wie die französische Publizistin Viviane Forrester schrieb - immer mehr der Gefahr ausgesetzt sind, zur überflüssigen Klasse zu gehören.

Die Stadtverwaltung versucht gegenzusteuern: Im »Münchner Modell« werden verbilligte Grundstücke der Stadt für Miet- und Eigentumswohnungsbau angeboten,  neue Fördermodelle auch im Genossenschaftsbereich sollen Wohnen und Wohneigentum  auch für weniger Betuchte erschwinglich machen. Ein »Bündnis für Wohnungsbau« soll sämtliche Potenziale in der Stadt erschließen und so die sozialen Folgen der Wohnungsnot mindern helfen.

Im Münchner Jahreswirtschaftsbericht 2000 verweist die Stadt zudem auf die im bundesweiten Vergleich günstige Arbeitslosenquote von 4,5 Prozent, von dem Münchner Wirtschaftsboom würden auch ältere Arbeitssuchende und  Langzeitsarbeitslose profitieren. Diese Prosperität wirkt sich über den  Arbeitsmarkt auch auf die Zahl der Sozialhilfeempfänger aus. Die  Sozialhilfedichte (Empfänger pro 1 000 Einwohner) ist in der alten  Bundesrepublik mit 37 nirgends so gering wie in München (zum Vergleich: Hamburg 74; Frankfurt 59, die Zahlen sind aus dem Jahr 2000).

Doch die »Stresssymptome des Erfolgs« (Oberbürgermeister Christian Ude, SPD) bleiben trotz der sozialen Abfederungsmaßnahmen bestehen. Der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann sieht in der sozialen Spaltung der Gesellschaft die Gefahr  einer heraufdämmernden Amerikanisierung der Städte: Der Ab- und Ausgrenzung von  Modernisierungsverlierern in den Neubaubezirken rund um die Großstädte und in den Sozialwohnungs- und Genossenschaftsenklaven der Innenstadt.

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