Baudrillard

Profil 11. März 2002

"Als wären die Türme müde geworden"


Der  französische Philosoph Jean Baudrillard über die symbolische Bedeutung des  Terrors und die Ohnmacht der Intellektuellen.

profil: Sie schrieben Mitte der siebziger Jahre, dass die beiden Türme  des World Trade Center die ökonomische Form des Monopols und die bipolare Welt repräsentieren. Wofür standen die Türme am 11. September 2001?
Baudrillard: Die Türme bedeuteten damals die Spiegelung der  Macht in sich selbst, ein vollkommenes Stadium, ein Endstadium gewissermaßen.  Und es ist sehr verwunderlich, dass beide Türme getroffen wurden. Wäre nur einer  getroffen worden, hätte das ganze Ereignis einen anderen Sinn bekommen. Zerstört wurde der architektonische Gegenstand, aber man zielte auf die symbolische  Gestalt der Macht. Und mit dem Einsturz hatte es den Anschein, als wären die  Türme müde geworden, das überschwere Symbol der Macht weiter zu  tragen.

profil: Den  rechten Terrorismus bezeichneten Sie einmal als eine Gewalt ohne Sinn und  Perspektive. Bei dem Terrorakt in New York sprechen Sie jedoch von einer symbolischen Gewalt. Gibt es hier einen grundsätzlichen Unterschied?
Baudrillard: Im Falle der  symbolischen Gewalt geht es nicht mehr um die Frage rechts oder links. Unter einem gewissen Gesichtspunkt ist es der Aufstand einer gewissen Singularität, eines unsinnigen Widerstands, der keine rationale Perspektive hat. Die Terrorakte haben keinen Sinn. Aber auch das System in seinem Verlauf ist  sinnlos, es geht technisch unwiderstehlich seinen Weg, ohne Perspektive. Unter  diesem Blickwinkel ist die konsequente Antwort auf das System ebenfalls eine sinnlose, eine absurde.

profil: Ein absurder Akt als "letzte Waffe" gegen ein  System?
Baudrillard: Absurd ja, aber im Sinne  unserer Rationalität, natürlich nicht im Sinne der Akteure. Es ist absurd im Sinne des traditionellen politischen Gedankens. Aber vom symbolischen Standpunkt  ist es nicht absurd. Denn es stellt gewaltsam eine Art Reversibilität wieder her. In einem System des verallgemeinerten Tausches, wo alles in die forcierte  Zirkulation kommt, bringt so ein Akt einen Bruch mit sich. Einige haben gesagt, dass diese Ereignisse wieder das Reale herstellen - gegen das Virtuelle. Ich  würde das so nicht sagen, aber wir haben eine Situation, in der etwas entworfen wird, jenseits des Gesetzes der Globalisierung und des allgemeinen Tausches.  Nicht das Reale bricht ein in das Virtuelle, sondern das Symbolische.

profil: Es gab sogar den Versuch, die Terroranschläge von New York als existenzialistischen  Akt zu deuten.
Baudrillard: Der Existenzialismus der fünfziger Jahre? Darüber sind wir mittlerweile hinaus.  Dieses Ereignis ist ja nicht im Sinne einer subjektiven Radikalität zu deuten.  Wir haben es heute mit einer objektiven Radikalität zu tun, in dem Sinne, dass  der Terrorismus nur das Medium ist für die innere Zerstörbarkeit des Systems selbst, der Operateur für dessen innere Fragilität. Es ist ein objektiver Prozess, dass eine Macht, in dem Maß, in dem sie größer und größer wird, auch ihren inneren Grund verliert und dann allein herrscht - aber ohne Sinn.

profil: Sie haben  einmal gesagt, dass die Kritik an einem System zugleich zur Stabilisation dieses Systems führt. Wenn Sie in diesem Sinne die Globalisierung kritisieren, ist dann dies nicht auch zugleich eine Anerkennung der Globalisierung? Wie sehen Sie  Ihren "Le Monde"-Artikel in diesem "Spiel"?
Baudrillard: Was die bekannten Globalisierungsgegner anbelangt, da denke ich, dass diese - unwillkürlich vielleicht - über die Vermittlung des Protests das System "ernähren". Es ist das Schicksal des  kritischen Denkens, dass es heute von dem System aufgesaugt wird. Aber dies  denke ich nicht von dem terroristischen Akt, hier besteht ein großer Unterschied.

profil: Der jüngst verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu hat versucht, neben seiner Rolle als Intellektueller auch eine politische Rolle zu spielen. Sehen Sie politisches Engagement auch für sich selbst als notwendig an, oder sind Sie der Meinung, dass das Engagement bereits mit der Kritik erschöpft  ist?
Baudrillard: Man kann das Engagement Bourdieus als das Wiederherstellen eines alten kritischen Verhaltens sehen. Dass dies von einem Franzosen ausging, war für uns eine Art Trost, da es sonst  niemanden mehr gab. Aber es hatte keine grundsätzliche Bedeutung, das war so wie eine Zurückwendung zu einem neomarxistischen Verhalten. Es war nichts Neues.  Aber es kam einer politischen Sehnsucht entgegen, dass es zwischen Intellektuellen und der Politik eine Verwandtschaft und eine gemeinsame Aktion  gäbe. Ich fand seine früheren Schriften anregender, aber das ist bitte kein Werturteil. In seiner eigenen Perspektive gesehen, war es schade, dass so  scharfe Analysen in banale politische Aktion mündeten.

profil: Aber die Intellektuellen scheinen zurzeit doch einen neuen Stellenwert zu gewinnen, als Weltdeuter von  Ereignissen, als Überwinder des "Erklärungsnotstandes".
Baudrillard: In dem Maße, in dem die Umstände und die  Ereignisse immer unvorstellbarer werden, weil sie über jedes Verständnis  hinausgehen, gibt es zwar viele Fragen, aber im Grunde keine Antworten. Denn die Lage ist die, dass das System zugleich die Fragen und die Antworten produziert. Für jede Frage gibt es schon eine künstliche Antwort oder ein rationelles oder technisches Mittel, um die Frage zu verwischen. Wir wissen nicht, was anstelle der früheren Antagonismen - etwa Revolution versus Revolte - sich heute der  Macht der Ökonomie und Politik entgegenstellen könnte. Das wäre die entscheidende Frage. Und diese Leere können die Intellektuellen leider nicht auffüllen. Aber ein gutes Zeichen ist, dass ab und zu ein intellektueller  Gedanke zu unvorhergesehenen Konsequenzen führt. Doch wir dürfen darauf keine Illusionen bauen. Vielleicht kann der Gedanke in seinem Bereich so etwas leisten  wie der Terrorakt, aber nicht auf diese gewaltsame Weise - eher als Wink gegen die allgemeine Banalisierung.

profil: Ihr Artikel hat unterschiedliche, zum Teil sehr heftige  Reaktionen provoziert. Was hat Sie daran am meisten überrascht?
Baudrillard: Dass man mich als Antiamerikaner, Nihilist usw. verdammt hat. Das Missverständnis lag dabei im symbolischen Bereich. Die Reaktionen zielten auf die ökonomische, politische oder moralische Ebene, ich  aber wollte dieses Ereignis auf der symbolischen Ebene verstehen. Die Reaktionen waren so asymmetrisch wie der terroristische Akt selbst und die amerikanische Macht. Vor allem fiel mir auf, dass sich keine Antwort auf dieselbe Ebene bezog wie mein Artikel. In Frankreich hat sich die Debatte von der Ebene des  Ereignisses selbst zurück auf die Ebene der intellektuellen französischen  Polemik herabgedrückt, und das war schade.

Interview: Rudolf Stumberger