Baltische Museen

Stumberger/ Münchner Pressebüro/Baltikum-Museen/

 

 

 

 

Opfer, Täter, Vaterland

 

In neu gegründeten lettischen und litauischen Museen spiegeln sich die Widersprüche der nationalen Geschichte

 

Von Rudolf Stumberger

 

Nach der Unabhängigkeit der baltischen Staaten 1991 wurden in Litauen und Lettland auf private Initiative hin eine Reihe neuer Museen eingerichtet, die sich mit der jüngeren Geschichte - der Zwischenkriegszeit, der deutschen und sowjetischen Besatzung und den Kämpfen für die nationale Selbständigkeit beschäftigen. Ein mystischer Nationalismus schwingt als Grundton in diesen Ausstellungen mit, der als politische Äußerung zu Dissonanzen mit der neuen EU-Mitgliedschaft führen kann.

 

 

Die Denkmäler der Täter sind gestürzt. Kein stählerner Lenin oder Marx mehr auf den Plätzen, kein steinerner Rotarmist mehr auf den Podesten. Gründlich haben sich die baltischen Republiken in den 1990er Jahren des kulturellen Erbes der Sowjetzeit entledigt und Hammer und Sichel an Ortsschildern und Hausfassaden getilgt. Wer in Litauen die Relikte dieser Zeit  betrachten will, kann dies allerdings im Süden des Landes in dem Örtchen Grutas tun. Dort hat der Pilzkonservenfabrikant und Millionär Vilniumas Malinauskas die kommunistischen Denkmäler gesammelt und sie in einem Skulpturen-Park aufgestellt, der von 200 000 Besuchern im Jahr aufgesucht wird und mittlerweile zu den größten touristischen Attraktionen Litauens zählt. 

Diese „Stalin World“ ist eine seltsame Mischung aus Disney-Land und Museum. Zwei Holzbohlenpfade führen durch den Wald zu den Statuen, aus Lautsprechern dringt blechern russische Musik, Wachtürme recken sich in den Himmel und es gibt Himbeereis und einen Kinderspielplatz.  In drei Ausstellungsräumen kann man Wandteppiche und Monumentalgemälde aus der Sowjetzeit besichtigen, um die nahe Villa des Pilz-Millionärs trabt träge ein Lama. Doch das seltsamste Schauspiel gibt jener historische Prozess, in dem Gut sich in Böse, Opfer sich in Täter und vice versa wandeln. Denn ein großer Teil der Statuen hier im „Täter-Park“ verweist bei genauerem Hinsehen auf Opfer – Menschen, die erschossen oder sonst wie ermordet wurden. 

So wie Vladas Rekasius, der 1920 bei seiner Verhaftung durch den litauischen Geheimdienst starb, wie die vier Kommunarden, die 1926 unter dem litauischen Kriegsrecht erschossen wurden, wie Marija Melnikaite, die 1943 als Partisanin von den Deutschen liquidiert wurde und wie Stefanija Greiciute. Die 19jährige war 1951 als Komsomolzin (ein Jugendverband) von antisowjetischen Partisanen ermordet worden. 

 

Die Kategorisierung, die auch an diese Denkmäler angelegt wird und sie so in den Kreis der Täter und des „Bösen“ verweist, kennt dabei nur eine Richtschnur: Die des Nationalen. Als „Anti-Nationalisten“ werden auf den immerhin wissenschaftlich genannten Begleittexten zu den Statuen die Dargestellten bezeichnet und diese Rubrik dient als Klammer für so unterschiedliche Opfer der Geschichte wie junge Sozialisten im Zarenreich, Kommunisten in der ersten litauischen Republik, sowjetische Partisanen während des 2. Weltkrieges und einer Komsomolzin in den 1950er Jahren. Das logische positive Pendant zu den „Anti-Nationalisten“ vereinigt dann sehr unterschiedliche historische Formationen: Das Litauen der Revolutionszeit, das autoritäre präfaschistische Litauen der 1930er Jahre, die deutsche Hitler-Armee und die litauischen Partisanen der Nachkriegszeit. Hier in der seltsamen Welt von Grutas entledigt man sich der Frage nach Recht und Unrecht, Recht und Gerechtigkeit durch die Schablone des Nationalismus: Gut und gerecht ist, was der  Nation dient.

Kaunas, die zweitgrößte Stadt Litauens, hat viele Museum: Ein Militärmuseum, in dem die Überreste des Flugzeugs der beiden litauischen Atlantikflieger Steponas Darius und Stasys Girenas zu sehen sind, ein Kunstmuseum und gar ein Teufels-Museum. Im Keller des Militärmuseums wurde für die Gefallenen der Unabhängigkeitskämpfe 1918 – 1923 eine Ruhmeshalle eingerichtet, draußen flackert vor dem Denkmal der Unabhängigkeit die ewige Flamme. In der Vitauto-Straße 46 wiederum wurde ein Museum für „Exilanten und politische Flüchtlinge“ ins Leben gerufen. Es widmet sich der unterdrückten Geschichte der Deportationen und der litauischen Partisanen gegen die Sowjetmacht. Aus Holz und Nägeln gefertigte Kämme, selbstgeschriebene medizinische Bücher und ein Schachspiel aus Brot zeugen von den armseligen Lebensbedingungen der mehr als 36000 Menschen, die 1941 und später nach Sibirien und anderswo verschleppt wurden. Die alte Dame, die durch das Museum führt, erzählt aus eigenem Erleben. Der zweite Teil des Museums widmet sich den „Waldbrüdern“, litauischen Partisanen, die bis in die 1950er Jahre gegen die Sowjetmacht kämpften. Maschinenpistolen, Fotografien, Reste von Uniformen und handschriftliche Protokolle erzählen von diesem Kapitel litauischer Geschichte. 100000 Partisanen sollen es gewesen sein, 3000 von ihnen starben.

Neben dieser Gedenkstätte der Opfer ist in Kaunas eine weitere Gedenkstätte zu besichtigen: Das sogenannte „Neunte Fort“, sieben Kilometer nördlich des Stadtzentrums gelegen. Die unter dem Zarenreich errichtete Festung diente bis 1940 als litauisches Gefängnis, danach benutzte es der sowjetische Geheimdienst. Unter dem Decknamen „Fabrik Nr. 1005-B“ wurde hier 1941 von den Nazis ein KZ eingerichtet, in dem zuerst Zehntausende Juden und später russische Kriegsgefangene ermordet wurden. Auf dem Ort der Massengräber wurde eine riesige Skulpturengruppe errichtet und ein Gedenkstein erinnert an die 1000 Juden, die von München hierher transportiert wurden. 

Sieht man den Skulpturen-Park von Grutas, das Kaunaer Museum der Deportierten und Partisanen und das Neunte Fort nicht als isolierte Erscheinungen, sondern in der Gesamtschau und wird so der nationale Tunnelblick der beiden ersten Erinnerungsorte überwunden, wird eine historische Gemengelage erkennbar, in der die eindeutige Zuordnung als Opfer oder Täter verschwimmt. Denn die Juden Litauens  waren nicht nur Opfer der deutschen Vernichtungsmaschine, sondern auch der Pogrome der Litauer. 1940, als nach dem Hitler-Stalin-Pakt mit seinem Geheimabkommen das Baltikum der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen wurde und die Sowjetarmee einmarschierte, begrüßten viele jüdische Bürger die Rotarmisten als das kleinere Übel. Denn das größere Übel wäre die Besatzung Litauens durch die Naziarmee gewesen, mit allen Folgen für die jüdische Bevölkerung. 1941, nach dem Einmarsch der Deutschen, kam es zu Gewaltausbrüchen und Massaker gegen die Unterstützer der Sowjetmacht, darunter eben viele Juden. „Auch wenn es verschiedene ethnische Opfergruppen gab und das übergeordnete Kriterium eine kommunistische Gesinnung war, hatten litauische Kommunisten noch am ehesten Chancen, der Gewaltorgie lebend zu entkommen. Im Gegensatz dazu lässt sich klar nachweisen, dass das Feindbild des ‚jüdischen Bolschewisten’ omnipräsent war“, so der Baltikum-Historiker Joachim Tauber. Die kurze Zeit sich später etablierende Provisorische Regierung diente schließlich den deutschen Besatzern ihre bedingungslose Unterstützung ihrer Rassen- und Vernichtungspolitik an. Verwaltung und Polizeibehörden beteiligten sich an den Massenmorden mit der Begründung, sich dadurch einen autonomen Status zu „verdienen“.

Dem heutigen Litauen fällt es schwer, diese unterschiedlichen Opfer-Täter-Rollen anzuerkennen und in Zusammenhang zu bringen, sie sind nur fragmentarischen an gesonderten Erinnerungsorten zu besichtigen. „Die Dichotomie, Opfer der sowjetischen Besatzung und zugleich Täter unter der nationalsozialistischen Herrschaft gewesen zu sein, stellt die eigentliche mentale Barriere dar, die es zu überwinden gibt“, schlussfolgert Tauber.

Das heutige Litauen und auch Lettland pflegt zudem einen Mythos rund um das Nationale. Dazu gehört die Verklärung des Aufstandes gegen die Sowjetmacht 1941 durch litauische Partisanen, ein Aufstand, der auch Züge von Plünderung trug. Und die Mythologisierung bezieht sich auch auf die Ereignisse 1991. So erinnert ein kleines Museum in der Altstadt von Riga an die Barrikaden, mit denen damals die lettische Unabhängigkeit eingeläutet wurde, das lettische Volk besetzte nach einer Großdemonstration von 700000 Menschen die wichtigsten Plätze der Hauptstadt. Das Museum zeigt ein Modell des Rigaer Domplatzes mit den Barrikaden aus Lastwagen und Eisenträgern, Fotografien, Kommunikationstechnik und Dokumente. In den Bildunterschriften werden diese Tage im Januar als eine geschlossene Demonstration des Volkswillens geschildert, aber auch sentimental überhöht, etwa wenn Frauen am Lagerfeuer den Männern auf den Barrikaden warme Socken stricken.

Dies alles sind Tendenzen eines ethnischen Nationalismus, der durch die Sowjetzeit tiefgefroren war und nun beim Auftauen die Versatzstücke vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit sich bringt. Menschen, die sich dieser nationalistischen Perspektive kritisch nähern, in dem sie von außen einen Blick auf diese kulturellen und politischen Tendenzen werfen, warnen. So der an der University of Yale lehrende Litauer Tomas Venclova. In Litauen hätten sich viele Elemente eines eingeschränkten und unzeitgemäßen Bewusstseins erhalten, sagt Venclova. Er warnt vor einer neuen politischen und kulturellen Mythologie, vor einer nationalen Mystik, die das ideologische Vakuum im Lande fülle, konstatiert aber auch, dass Litauen bisher mit diesen Gefahren fertig geworden sei.

In Lettland wird die Diskussion um das Nationale zugespitzt durch den Konflikt um die Staatszugehörigkeit der russischsprachigen Bevölkerung im Lande. Sie stellt mehr als ein Drittel der rund 2,3 Millionen Einwohner und ist in den großen Städten in der Mehrheit. Nationalisten wie der Publizist Visvaldis Lacis fordern eine Staatszugehörigkeit nur für Letten und sprechen somit den in Lettland lebenden Russen eine Staatsbürgerschaft zweiter Wahl zu, diskutiert wird auch eine Rückführung der Russen nach Russland. Die „Feigheit der Politiker“ vor diesem Problem sprenge alle Grenzen, so Lacis, den diese nähmen zuviel Rücksicht darauf, was die Europäische Union dazu sagen würde.

Die Mitgliedschaft in eben dieser Europäischen Union stellt die Nationalisten und den mystischen Nationalismus vor eine Probe, denn natürlich werden mit dieser Mitgliedschaft nationale Rechte an Brüssel abgegeben. Die kleinen, knapp seit einem Jahrzehnt wieder unabhängigen baltischen Staaten haben sich in die Obhut eines sehr großen Bruders begeben, der schützt, aber auch Regeln setzt und das Nationale relativiert. Damit ist aber auch die Möglichkeit gegeben, dass ein unzeitgemäßer mystischer Nationalismus in einem Europa der Regionen aufgeht.      

 

 

Informationen zu Museen mit historisch-politischem Hintergrund:

 

Litauen

 

Skulpurenpark in Grutas, 7 Kilometer östlich der Kurstadt Druskininkai. Ausstellung von Statuen und Skulpturen der Sowjet-Zeit. 

 

Kaunas, Gedenkstätte „Neuntes Fort“, 7 Kilometer nördlich des Stadtzentrums, Museum und Gedenkstätte für die von Nazis ermordeten Juden und russischen Kriegsgefangenen.

 

Kaunas, Museum für Exilanten und politische Flüchtlinge, Vytuto-Str. 46.  Ausstellung über die Deportation von Litauern nach Sibirien und über die litauische Partisanenbewegung der „Waldbrüder“.

 

Vilnius, KGB-Museum, Auku-Str. 2a, düsteres Gefängnis mit Dunkel- und Folterzellen, das von der Gestapo und dem KGB benutzt wurde.

 

Vilnius, Fernsehturm, Sausio13-osios Nr. 10. Der Fernsehturm in Vilnius war im Januar 1991 Schauplatz von blutigen Auseinandersetzungen zwischen sowjetischen Sondertruppen und der Bevölkerung, elf Menschen fanden den Tod. Vor dem Fernsehturm erinnern mehrere Kreuze an die Opfer, drinnen informiert eine Ausstellung über die Ereignisse.

Lettland

 

Riga, Museum der Okkupation, Strelnieku laukums 1. Informiert über die deutsche und sowjetische Besatzungszeit.

 

Riga, Museum der Barrikaden, Kramu iela 2, Ausstellung über die Barrikaden am Domplatz.

 

Salaspils, Gedenkstätte für ein NS-Massenvernichtungslager, 20 Kilometer südöstlich Riga.