Litauen

Stumberger/Münchner Pressebüro/Berg der Kreuze

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Der Berg der Kreuze

Legenden und Geschichten um einen litauischen Wallfahrtsort

 

Von Rudolf Stumberger

 

Er ist wohl einer der ungewöhnlichsten Orte in Europa: Der „Berg der Kreuze“ (Kryziu Kalnas)im nördlichen Litauen, dem größten der drei baltischen Staaten. Rund zehn Kilometer nördlich der Stadt Siauliai (Schaulen) findet man auf einem neun Meter hohen Hügel ein weltweit einzigartiges Meer von Kreuzen. Zehntausende stehen hier dicht an dicht, die meisten aus Holz, manche aber auch aus Stein oder Metall. Die Kreuze haben alle Größen und Formen, manche sind kunstvoll geschnitzt, anderer zusammengeschweißt. Wie Bienenwaben hängen kleine Holzkreuze an größeren Kreuzen, viele sind am Boden aufgestapelt. Fährt der Wind durch dieses Meer an Kreuzen, so ist ein eigenartiges Klappern und Singen zu hören. Vor der Treppe, die den Hügel hinaufführt, wurde 1993 anlässlich des Papstbesuches eine große Christusfigur aufgestellt.

Nur eine kleine Tafel gibt den Weg an, der von der vielbefahrenen Fernstraße in Richtung Riga abzweigt und durch grüne Wiesen zu dem Wallfahrtsort führt. Das Nebensträßchen endet auf einem Parkplatz, an dessen Rand einige Verkaufsstände mit Devotionalien aufgebaut sind. Hier können die Besucher kleine Holzkreuze und Kerzen erstehen. Und von hier aus sind es nur wenige Gehminuten, bis der seltsame „Berg der Kreuze“ unter dem endlos weiten baltischen Himmel vor einem liegt. Eine Treppe aus Holzbohlen führt die Besucher auf den Berg hinauf und auf schmalen Pfaden kann man dieses Meer der Kreuze durchschreiten.

Zunächst schweift der Blick angesichts der Fülle an Formen und Größen suchend  umher bis er sich an dem einen oder anderen Detail verfängt und einzelne Kreuze ihre Geschichte erzählen. Ein großes Holzkreuz steht so für die Geschichte eines litauischen Emigranten in den USA, der 1996 den Wallfahrtsort besuchte. Andere Kreuze stammen aus dem polnischen Lublin. Eine Gruppe von Steinkreuzen erinnert im postsowjetischen Litauen an die gefallenen antisowjetischen Partisanen 1944 bis 1954. Andere sagen mit der Aufschrift „Aciu“ einfach Danke – vielleicht für die Genesung von einer schweren Krankheit.

Manche der Holzkreuze sind schlicht aus zwei Balken zusammengezimmert, andere weisen Schnitzereien und Verzierungen auf, sind gedrechselt und bemalt. Manche sind über drei Meter groß, andere nur wenige Zentimeter hoch. An jedem großen Kreuze hängen wiederum eine Vielzahl kleinerer Kreuze und an denen traubengleich noch Kleinere. Hinzu gesellen sich Rosenkränze in allen Farben, Materialien und Längen, die um die Kreuze geschlungen sind oder von diesen herabhängen. Werden sie von dem Wind bewegt, der durch das Meer der Kreuze fährt, so ertönt ein merkwürdiges Singen und Klappern, das die eigenartige Stimmung an diesem seltsamen Ort noch verstärkt. Hie und da ragt eine Christus-Figur oder eine Madonnenstatue aus dem Meer empor.

Der Wallfahrtsort gilt als Stätte des Leidens und Gedenkens, aber auch der Liebe und der Hoffnung. Viele Besucher legen auf dem Hügel die zuvor am Parkplatz gekauften kleinen Holzkreuze nieder oder hängen sie bei anderen Kreuzen ein, dadurch sollen Wünsche in Erfüllung gehen.  So wird der Ort auch bei freudigen Anlässen wie einer Hochzeit besucht und man stellt ein Kreuz als Dank für einen erfüllten Kinderwunsch auf.

Wie das Meer der Kreuze ursprünglich entstand, ist unklar. Eine Legende erzählt  von einem Vater, der bei einer Nachtwache am Bett seiner erkrankten Tochter einschlief. Im Traum erschien ihm eine weiße Frau, die ihm befahl, ein Kreuz auf dem Hügel aufzustellen. Der Mann tat wie ihm geträumt und als er das Kreuz aufgestellt hatte und wieder nach Hause zurückkam, war die Tochter genesen.

Eine andere Legende handelt von einem Fürsten aus Vilnius. Dieser habe vor 300 Jahren einen Prozess gegen einen anderen Fürsten geführt und sei an dem Berg vorbei zum Gericht nach Riga gefahren. Seinen Dienern habe er gesagt: ,,Wenn ich den Prozess gewinne, werde ich auf dem Berg ein Kreuz aufstellen.“ Der Fürst hat den Prozess gewonnen und auf dem Rückweg befahl er, auf dem Berg das Kreuz zu errichten. Bald habe sich der Ruf vom Gelübde des Fürsten im ganzen Lande verbreitet.

Historisch gesicherter ist, dass der Hügel den Rest einer alten Burg darstellt, die im 14. Jahrhundert von den Kreuzrittern zerstört wurde. Der Hügel galt seit alters her als ein legendenumwobener Ort und war vermutlich eine Gebets- und Opferstätte. Schriftlich erwähnt werden die Kreuze erstmals um 1850. Man vermutet, dass sie für die Opfer eines niedergeschlagenen Aufstandes gegen den russischen Zaren aufgestellt wurden (1831 und 1863). Traditionell wird in Litauen der Grabpflege großen Wert beigemessen, damit nach dem Volksglauben die Geister der Toten ihre Ruhe finden. Da die Angehörigen der getöteten Aufständischen nicht immer wussten, wo ihre Verwandten verscharrt waren, begannen sie die Kreuze auf dem Hügel zu errichten. Ende des 19. Jahrhunderts  wurden bereits rund 150 Kreuze gezählt, 1940 waren es an die 400. In der Sowjetzeit wurden die Kreuze auch zu einem politischen Symbol: Nach Stalins Tod im Jahre 1953 kehrten die nach Sibirien deportierten Litauer zurück und stellten hier Kreuze für die im Gulag Verstorbenen auf. Gleiches taten viele politische Gefangenen und Gläubige. 1961 und 1975 versuchten die örtlichen Funktionäre den Berg der Kreuze mit Bulldozern platt zuwalzen und die Holzkreuze wurden verbrannt. Doch es entwickelte sich ein regelrechter „Krieg der Kreuze“ zwischen den örtlichen Parteifunktionären und der Bevölkerung, die die Kreuze immer wieder aufs Neue errichteten.

Auch hier setzte eine Legendenbildung ein: Der Berg soll sich, wie Einheimische erzählen, an den Teilnehmern der Baggeraktion gerächt haben. Es sei kaum ein halbes Jahr vergangen, bis den Milizvorgesetzten des Bezirkes sein Schicksal  ereilte – seine beiden Kinder ertranken vor seinen Augen, als das Dienstauto in einen See rollte und mit den Insassen versank. Ein Traktorist aus dem Kolchos Meskuiciai, der die Kreuze mit dem Bagger abgerissen hatte, landete eines Abends betrunken im Straßengraben. Am Morgen hätten ihn die Leute ertrunken im schlammigen Wasser gefunden. Ein gewisser Kolchosenvorsitzender wiederum sei an einem Gehirnschlag  gestorben. 

Der Hügel jedenfalls wurde so zu einem Symbol für einen neu erstarkten katholischen Glauben in Litauen und zugleich zu einem Symbol für eine nationale Identität, die nicht im sowjetischen Staatenbund aufgehen wollte. 1990 soll es bereits 40.000 Kreuze auf dem Berg bei Siaulia gegeben haben. Neue Kreuze kamen hinzu, als 1991 im Kampf um die nationale Unabhängigkeit dreizehn Menschen bei der Stürmung des Fernsehturmes in der litauischen Hauptstadt Vilnius durch russische Spezialtruppen ihr Leben verloren.

Nach der Unabhängigkeit besuchte im September 1993 der Papst den nördlichen Wallfahrtsort und hielt eine Messe ab. Ein Jahr später kam ein Geschenk aus Rom an: Ein großes Kreuz mit Christusfigur, das jetzt vor der Treppe zu sehen ist. Bei seinem Litauen-Besuch hatte Papst Johannes Paul II den Franziskaner-Orden mit der Betreuung des Wallfahrtsortes betraut und zum Bau des Klosters als Brücke zwischen dem Berg der Kreuze, dem litauischen Nationalheiligtum, und dem La Verna, dem italienischen Nationalheiligtum in der Toskana, angeregt. Ende der 1990er Jahre erfolgte die Grundsteinlegung für ein „Haus der Stille“. Das zwei Stockwerke umfassende Gebäude, um einen Kreuzgang herum und in der Form des litauischen Kreuzes gebaut, sollte Noviziatshaus, Ort des Gebetes und der Kontemplation sein. Nach nur knapp zwei Jahre Bauzeit entstand am litauischen Nationalheiligtum ein Zwei-Millionen-Dollar-Klosterprojekt, das im Juli 2000 eingeweiht wurde und das sich über Nachwuchsprobleme keine Sorgen machen muss. Im Gegenteil: Laut Provinzialminister Benedikt Jurcys haben sich mehr Bewerber für den Eintritt in den Orden gemeldet als Platz vorhanden ist. Das nach Plänen des italienischen Architekten Nunzio Rimmaudo errichtete Franziskaner-Haus fungiert nun als litauisches Noviziat für „angehende“ Mönche. Und im Erdgeschoß des Neubaus gibt in einer kleinen Kapelle ein Riesenglasfenster den Blick auf das Meer der Kreuze des Wallfahrtsberges frei.

 

Info-Kasten:

 

Litauen ist mit 3,5 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste der drei baltischen Staaten ( Lettland: 2,4 Millionen, Estland: 1,2 Millionen). Hauptstadt ist Vilnius mit seiner sehenswerten renovierten Altstadt. Nach Kaunas und Kleipeda ist die Industriestadt Siauliai mit 140.000 Einwohnern die viertgrößte Stadt Litauens. Ihr Name ist verbunden mit der Schlacht von Saule, bei die im 13. Jahrhundert Ordensritter eine vernichtende Niederlage erlitten. Der „Berg der Kreuze“ nahe Siauliai ist mittlerweile zu einem der meistbesuchten Wallfahrts- und Touristenorte Litauens geworden.